"Ihr verdammtes Glück"

Spannende Texte junger Autoren

von Thomas Anz und Oliver Pfohlmann (Hrsg.)

Verlag LiteraturWissenschaft.de (TransMIT)
Marburg an der Lahn 2001

Inhalt

33 Jahre später

von: Myriam Prien

Gegen Morgen trennen sich die drei. Jede von ihnen muss noch etwas besorgen. Kurz zuvor haben sie sich am WG-Tisch endgültig auf die Sache eingeschworen.

9.10 Uhr, ein Seminarraum in der Philosophischen Fakultät:

"Worüber hältst du denn heute?"

"Über die Funktion des Traums in der Groteske." Alexa lächelt ihre Kommilitonin an. "Mein Lieblingsthema."

Pünktlich cum tempore betritt der Professor den Raum und nimmt wie immer nickend seinen Platz am Kopf der Tischrunde ein. Er nickt immer noch, als er mit brüchiger Stimme die Ergebnisse der letzten Sitzung zusammenfasst und den Plan für die aktuelle vorstellt. Vor Alexa wird noch ein anderes Referat über Die Verwandlung von Franz Kafka gehalten, dass sich, auch wie immer, sterbenslangweilig in die Länge zieht, wie sie es nicht anders erwartet hat. Alexa denkt an Britt und Claudia. Sie schaut auf die Uhr. 9 Uhr 35. Gleich ist es soweit, sagt sie sich, während sich ihr Puls beschleunigt. Sie sieht in die Runde: alle stieren apathisch vor sich hin und diejenigen, die noch nicht mit offenen Augen schlafen, fangen an, die Referentin zu hassen. Ihr Augenblick rückt näher.

Auf einmal scheint der nicht enden wollende Vortrag doch beendet zu sein, denn der Professor bedankt sich bei der Rednerin, die nun verlegen auf Fragen wartet. Natürlich kommen keine. Um die peinliche Situation zu überbrücken, stellt der Professor einige, die die Referentin nicht beantworten kann. Damit ist Alexas Augenblick gekommen.

Sie steht auf und geht nach vorne. Dort angekommen, steigt sie unvermittelt auf den Tisch, öffnet die Knöpfe ihres Kleides und zieht sich seelenruhig aus, bis sie nackt bis auf die Brille vor ihren Kommilitonen steht. Und vor dem Professor.

9.10 Uhr, Hörsaal:

Britt hat sich einen Platz ziemlich weit vorne an der Seite gesucht, damit sie jederzeit aufstehen kann. Der Saal füllt sich schleppend mit Studenten, und Britt winkt einer Gruppe zu, die weiter hinten sitzt. Sie grüßen zurück. Doch schon kreischt der vertraute Rückkopplungseffekt durchs Mikrofon, ein unfehlbares Indiz dafür, dass der Professor anfangen will. Bis auf ein paar müde Lacher verstummt das Gemurmel, und die erste Folie zum Thema Internationale Kapital- und Güterströme wird aufgelegt. Die morgenschweren Geister sammeln sich mühsam. Bei der Folie "Wechselkurse" schaut Britt auf die Uhr. 9 Uhr 40. Noch fünf Minuten, denkt sie, und ihr Herz schlägt schneller. Um sich herum hört sie die Kugelschreiber selbstvergessen gelenkt über Collegeblöcke flitzen. Sie hört, wie sich der Zeiger der Hörsaaluhr Minute für Minute weiterschiebt. Sie zählt mit. Sie denkt an Alexa und Claudia. Nach dem fünften "tack" steht sie abrupt auf und geht zügigen Schrittes nach vorne. Doch nimmt sie nicht den Weg zur Tür, sondern steuert direkt den Professor an, der irritiert seinen Satz unterbricht, als sie sich ihm bis auf fünf Meter genähert hat und nun das Podium besteigt.

"Ja bitte?", fragt er verständnislos.

Britt schreit los: "Alle die Hände auf die Tische, sofort, ich habe einen Elektroschocker! Der Professor bekommt ihn zu spüren, wenn einer aus diesem Raum nicht pariert! Wer sich jetzt noch rührt, wird von meinen Kollegen im Saal überwältigt!"

9.10 Uhr, Mensa:

Am Kaffeeautomaten ist reger Betrieb. Koffein im Becher ist um diese Uhrzeit sehr gefragt. Trotzdem sitzen die meisten noch recht morgenwund an ihren Tischen, einige unterhalten sich schonend. Claudia sitzt unbemerkt am Rand und beobachtet die Zeitungsleser, Brötchenbeisser und Leiseredner. Sie sieht auch die Kassiererin und fragt sich, wie sie wohl ohne diesen Kittel aussehen würde. Allmählich füllen sich die Tische. Überwiegend Männer, stellt Claudia fest, überwiegend Männer mit weißen Socken. Sie stellt sie sich der Reihe nach nackt vor. Mit und ohne Zigarette, je nachdem. Danach mit schwarzen Socken. Um 9 Uhr 30 schaut sie auf die Uhr. Noch 15 Minuten, denkt sie und in ihrem Bauch zieht es ein wenig. Sie denkt an Alexa und Britt. Dann schiebt sich eine Mutter mit Buggy in ihr Gesichtsfeld und setzt sich mit einem Pott Kaffee an den Nebentisch.

Gegen 9 Uhr 45 zieht Claudia mit einem Mal ein Megaphon aus ihrer Tasche und stellt sich an die Tür. Von dort aus erschallt plötzlich eine schrille Stimme und fräst sich in die Ohren der Schlummergemüter: "Achtung, Achtung! Der Kaffee in dieser Mensa ist vergiftet! Ich habe ihm heute morgen ein Aufputschmittel beigemischt, dass jedem unter dem Namen Ecstasy bekannt sein sollte."

9.45 Uhr, Seminarraum:

"Der Traum, besonders aber der Albtraum, hat sich in der Kunst seit ihrem Bestehen als ungeheuer fruchtbare, irreale Inspiration niedergeschlagen und..."

"Hören Sie auf! Was soll das? Kommen Sie da runter, Sie sind ja verrückt!", stammelt der inzwischen blau angelaufene Professor fassungsringend, so laut er kann. Hilflos sieht er sich bei seinen Studenten um, die allesamt völlig gebannt und versteinert nach vorne blicken. "Was ist hier los?", wispert er kurzatmig. Keiner rührt sich. Er beginnt zu röcheln: "Was geht hier vor sich?"

"... und gerade in der Groteske seinen entsprechendsten Ausdruck gefunden."

"AUFHÖREN!", kreischt der kopfwedelnde Professor stimmlos. "RAUS HIER!"

9.45 Uhr, Hörsaal:

Das Mikrofon kreischt, dann stellt sich schneidende Stille ein. Der Professor atmet unregelmäßig in das Mikrofon. Die unbehagten Blicke aus den Bänken konzentrieren sich abwechselnd auf Britt und den Professor und suchen dann schwer irritiert nach dem des Nachbarn.

Mit drohender Stimme fährt sie fort: "Ich meine bitterernst, was ich jetzt sage! Ihr werdet jetzt alle die Parole rufen: ''Rotgezurrtes wurzgebrochen, Lautgespreiztes faulgerochen!'' KAPIERT? Nochmal: ''Rotgezurrtes wurzgebrochen, Lautgespreiztes faulgerochen!'' JEDER wird es rufen! Sollte auch nur einer eine Ausnahme machen, malträtiere ich den Professor mit dem Elektroschocker. Ist das soweit allen klar? Ihr werdet kontrolliert! LOS JETZT!"

9.45 Uhr, Mensa:

Es ist nur noch das Ersterben der Düse am Kaffeeautomaten zu hören. Alles glotzt jetzt schockiert benommen zur Tür. Nach einer folgenschweren Sekunde entfährt der Kassiererin ein erstickter Schrei. "Klappe halten!", schreit Claudia ins Megaphon, und alles zuckt zusammen. Das Kleinkind im Buggy fängt an zu weinen. Die Mutter ist leichenblass und beugt sich nun zitternd über ihr Kind. "Sie da, hinsetzen!", befiehlt die Stimme in scharfem Ton. Die Mutter schaut verängstigt nach vorne. "SOFORT!", setzt es nach, und das Kind weint lauter.

9.48 Uhr, Seminarraum:

Eine Studentin steht auf, rafft ihre Sachen zusammen und rennt aus dem Raum. Es ist die erste Referentin. Eine weitere steht gleich danach auf und geht nach vorne zu Alexa - die ungerührt ihr Referat fortsetzt - und zischt leise auf sie ein. Einer mit Lederjacke fängt plötzlich kehlig an zu lachen und kann sich nicht mehr einkriegen. Dafür erntet er die alarmiert betretenen Blicke seiner Nachbarn. Als er in ihre Gesichter sieht, krächzt er sich heiser, seine verzerrte Mimik lässt auf einen bösen Krampf schließen.

Alexa hält ihr Referat weiter.

9.48 Uhr, Hörsaal:

Britt stößt mit einem wild entschlossenen Gesicht den Gegenstand zwischen ihren Fingern in den Oberarm des Professors. Er fährt zusammen und ächzt hilflos. Plötzlich stehen drei Leute aus der zweiten Reihe gleichzeitig auf und beginnen zu murmeln: "Rotgemurks wurzgedroschen, Lautge... faul...erloschen!" "FALSCH!", kläfft Britt sie von der Bühne aus an. Sie schreit durch das kreischende Mikrophon: "Rotgezurrtes wurzgebrochen, Lautgespreiztes faulgerochen!" Mit einem Hauch von Panik schwenken die drei hektisch ihre Arme in Richtung der anderen Kommilitonen. Aus den ersten Reihen erheben sich einige, um in ihren Sprechakt einzustimmen. Es wird lauter. Sie versperren ihren Hinterleuten die Sicht.

9.48 Uhr, Mensa:

Plötzlich schreit einer hysterisch los: "Lassen sie Mutter und Kind in Ruhe! " Das Kind fängt an zu schreien. Claudia wählt eine sarkastisch-warnende Stimme: "Haben Sie Kaffee getrunken? Gleich werden Sie noch mehr rumzappeln!" Der Raum erstarrt. Dann bedeutet sie der Mutter und dem Kind, zu ihr zu kommen, und sagt mit ruhiger Stimme: "Sie können mit dem Kind gehen." Ihr Blick bohrt sich in die aufgerissenen Augen der Anwesenden: "Alle anderen bleiben auf ihren Plätzen!"

9.50 Uhr, Seminarraum:

Der Professor würgt erschüttert: "Sie brauchen nicht mehr wiederzukommen, ich will Sie hier nicht mehr sehen..." und verlässt schnaufend vor Anstrengung den Raum. Die Tür knallt.

Alexa bemüht sich, ihren Vortrag fortzusetzen.

Eine Kommilitonin hat sie am Handgelenk gepackt und will sie vom Tisch runterziehen, während sie Alexa immer wieder anschreit: "Was tust du? Mensch, komm zu dir!"

9.50 Uhr, Hörsaal:

Britt brüllt mit ihrer aggressivsten Stimme: "ALLE rufen die Parole! Sonst ziele ich auf sein Herz!" Der Professor ruft: "NICHT! BITTE NICHT aufs Herz!" Britt führt das Gerät in ihrer Hand auf sein Herz. Da schnellen die mittleren Reihen nach oben, sie können nichts mehr sehen. Sie stimmen mit ein. Plötzlich schreit einer: "Lasst Euch das nicht gefallen! Das ist doch Verarschung!" Der Sprechakt der anderen wird lauter. Sein Protest geht im Rufen unter.

9.50 Uhr, Mensa:

"Auch Sie!" fährt Claudia die Kassiererin an, denn jene ist im Begriff, die kurze Ablenkung Claudias zur Flucht hinter die Tresen zu nutzen. Doch sie hat nicht damit gerechnet, dass Claudia ihre Bewegung durch die Spiegelung der Tür registriert, durch die gerade eilig die Mutter mit dem Kind entschwindet. Blitzschnell dreht sie sich zu der Kassiererin um.

9.51 Uhr, Seminarraum:

Der Lacher applaudiert und jubelt jetzt lautstark, ein weiterer Student und eine Kommilitonin stimmen zögernd in seinen Beifall ein. Die anderen beeilen sich nun, nichts liegen zu lassen und schnellstens den Raum zu verlassen.

Alexa wird vom Tisch gerissen.

9.51 Uhr, Hörsaal:

Der Hörsaal ist erfüllt vom Rhythmus der Parole "Rotgezurrtes wurzgebrochen, Lautgespreiztes faulgerochen", während Britt bedrohliche Gesten in Richtung des Professors unternimmt. Mit einem Mal jedoch stöhnt dieser mit furchtgeweiteten Augen keuchend auf und sinkt in sich zusammen. Britt lässt die Fernbedienung in ihrer Hand sinken und sieht, wie ein Rudel Kommilitonen auf das Podium zustürmt.

9.51 Uhr, Mensa:

Claudia dirigiert die Kassiererin zu einem der Tische. Diese bekommt einen Schweißausbruch. Die Stimme aus dem Megaphon höhnt hinter ihr her: "Sagen Sie, wie ist es möglich, dass man in ihrer Küche den Kaffee so leicht manipulieren kann?", als Claudia völlig unerwartet hart von hinten gepackt und gegen die nächste Wand geschleudert wird.

Die WG wird aufgelöst. Jede von ihnen hat eine kleine Kamera bei sich gehabt. Die Wette haben sie gewonnen.