"Ihr verdammtes Glück"
Spannende Texte junger Autoren
von Thomas Anz und Oliver Pfohlmann (Hrsg.)
Verlag LiteraturWissenschaft.de (TransMIT)
Marburg an der Lahn 2001
Das Monster
von: Patrick Kollmer
Es war schon dunkel, als er aus dem großen Gebäude der Versicherungsanstalt heraus, hinein in den Strom der Passanten humpelte. Auf dem Heimweg fraß er, wie jedes Mal, ein großes Stück seines Hasses, seines unerschöpflichen Mutterkuchens in sich hinein.
Endlich konnte er das verhasste Büro mit seinen verhassten Kollegen und seinem verhassten Chef hinter sich lassen. Es waren miese unterbelichtete kleine Stümper, die ihm diesen Tag auf die grausamste Art und Weise verhunzten, sein ganzes Leben ihn durch ihre bloße perverse Existenz in eine kräftezehrende Aufgeregtheit trieben, das ganze Büro war voll von diesen Existenzunberechtigten, dachte er wütend. Kaputtmachen wollten sie ihn, seit dem ersten Tag im Büro, das wusste er. Er war nur der Umschüler und der Krüppel. Erst machten sie sich lustig über ihn, dann wollten sie ihn kaputtmachen. Erst der umgeschulte Krüppel, der für jeden frei verfügbar dafür herhalten musste, dass jeder, vom kleinsten Pissbüroboten über seine gottverdammten so genannten Kollegen in seinem Büro, den Nebenbüros, den Nebennebenbüros usw., bis hin zu seinem geisteskranken Chef - besonders der - sich über ihn lustig machte. Auf die abartigste Weise ihm gegenüber Freundlichkeit vorgaukelnd, würde dieser, wenn er nicht da wäre, das wusste er, sich prustend auf den Boden werfen und ihn vor den anderen verhöhnen.
Aber als er sich wehrte, als sie erkennen mussten, dass er keine verlachbare, sondern eine furchtbare Person war, wollten sie ihn kaputtmachen. Damals, vor dem Chinesen hätte er mit ihnen kurzen Prozess gemacht, dachte er, da hätte es knack-knack gemacht und ihre hässlichen Köpfe voller mieser Gedanken gegen ihn wären stumm von ihren Schultern gebaumelt. Knack-knack, dachte er und schmunzelte.
Er drehte sich um. Ihm war, als ob ihn jemand verfolgte. Grimmig musterte er die Passanten. Keiner, den er kannte. Er ging weiter, sich immer wieder umschauend, ob nicht doch einer der Kollegen oder gar der Chinese hinter ihm her war.
Die Scheinwerfer der Autos blendeten ihn und die Leute auf der Straße widerten ihn an. Er beschloss einen Umweg in Kauf zu nehmen, um dieser blöden Masse zu entkommen und bog in eine Seitenstraße ein.
Die Dregger mit ihrem "Wie geht´s?", die Brötzger mit ihrem "Geht´s gut?", der Muschlik mit seinem "Wo geht´s denn heute Abend hin?", es waren immer zweideutige Anspielungen auf seine Verkrüppelung. Es waren die nettesten Bemerkungen nur Tarnung für die gemeinsten Demütigungen.
Einmal wurde ungefragt sein Tipp-Ex benutzt und nicht fest zugeschraubt, sein Stempelkissen war immer seltener an dem Platz, an welchem er es Tags zuvor abgelegt hatte, von den fehlenden Klebezetteln und der ständig verschobenen Tastatur ganz zu schweigen. Er begann sich am Abend einzuprägen, millimetergenau, wo er wie was vor dem Verlassen des Büros abgelegt und eingestellt hatte und prompt war es am nächsten Morgen das reine Chaos. Beim Chef hätte er sich nicht beschweren können, der hasste ihn, der war auf ihrer Seite, das wusste er. Wollten ihn mürbe machen, sie alle, weil sie den Krüppel nicht ertrugen, dachte er.
Nach ein paar Wochen des stillen Hasses und der stillen Verachtung begann er aktiv zu hassen und zu verachten. Sobald er sich unbeobachtet fühlte, verstellte er die Sitzflächen der Stühle, ließ Stifte verschwinden und Akten, löschte ganze Datensätze aus den Dateien.
Als er zum Chef zitiert wurde, sagte ihm dieser, dass es gewisse Spannungen, das wäre ihm zu Ohren gekommen, zwischen ihm und seinen Kollegen gäbe und dass es unvernünftig sei und vollkommen unverständlich sowieso, da er doch die zuvorkommenste Behandlung der Abteilung genieße, welche sich stets bemühe, ihn, trotz seines etwas schwierigen und isolierten Verhaltens, zu integrieren.
Die sollten integrieren was sie wollten, dachte er damals sogleich, nur nicht ihn, er sei inintegrierbar, erinnerte er sich.
Dass es zwar keine Beweise gäbe, welche die Vorwürfe seiner Kollegen unzweifelhaft bestätigt hätten, sagte sein Chef weiter, aber dass er, der Chef, wenig Grund hätte, an den an ihn herangetragenen Beschwerden zu zweifeln. Er, der Chef, würde ihn in Schutz nehmen, solange er könne, aber er bitte ihn inständig um mehr Teamarbeit, um mehr Kommunikation usw. Er nickte ernst und sagte, dass er dies tun würde.
Nach einigen Wochen, in welchen er sich, allein damit der Verdacht nicht auf ihn fiel, zurückhaltend, manchmal fast freundlich gegenüber seinen Kollegen verhielt, zündete er das Haus seines Chefs an.
Er nahm, um seinen Umweg abzukürzen, den Weg durch den nächtlichen Stadtpark. Am Tag ekelte er sich davor, durch den Park zu gehen, überall rannten brüllende und quietschende Kinder herum und ihnen hinterher ihre brüllenden und quietschenden Mütter, unangeleinte Hunde konnten einem jederzeit die Kehle aufreißen oder brutale Jugendliche schleuderten mutwillig ihre Frisbeescheiben auf die Köpfe der
Vorbeigehenden. Nein, am Tag war der Stadtpark ein Schlachtpark des lautesten und gemeinsten Pöbels, dachte er.
Jetzt war es ruhig, die Blätter der Bäume raschelten sanft in den abendlichen Brisen, was sein Gemüt ein wenig beruhigte. Er wurde fast friedlich.
Ein seltsames Knurren ließ ihn stocken. Ein Hund? Seine Kollegen? Der Chinese? Er horchte. Das Blut pochte in seinem Schädel. Angestrengt schaute er in die Dunkelheit, aus der das Geräusch kam. Nichts. Eine Weile blieb er wie eingefroren mit offenem Mund in der Finsternis stehen. Nur Blätterrauschen und Blutpochen und Schwärze. Vielleicht ein paar Schwuchteln, die es sich gegenseitig im Gebüsch besorgten, dachte er. Langsam ließ das Dröhnen in seinem Kopf nach und er entspannte sich wieder. "Scheiß Schwule!", rief er noch, bevor er weiterhumpelte.
Nach dem Chinesen war er ein anderer, ängstlicher, dachte er.
Vertreter war er, 10 Jahre lang, Vollblutvertreter, bis ihm dieser Chinese in den Weg kam. Er kannte alle Tricks und Kniffe. Sobald einer die Tür aufmachte, wusste er, sah er sie oder ihn, welche Verkaufsmethode zum Verkauf führte. Natürlich überlegte er sich vorher, wo er klingelte, denn kinderreiche Familien oder Allleinstehende bis 40 Jahren waren zumeist vertreterresistent. Die Stütze seines Erfolgs als Vertreter, als Meistervertreter, wie sie ihn damals nannten, waren Alte, am besten alte Behinderte.
In den Städten, in denen er arbeitete, suchte er sich stets Wohnviertel mit überdurchschnittlichem Altenanteil heraus. Oft operierte er auch mit Todesanzeigen, wobei er einige Wochen nach Veröffentlichung der Anzeige die Witwe oder den Witwer aufsuchte. Alte, alte Behinderte, Witwen und Witwer freuen sich über jede Aufmerksamkeit, wusste er, dachte er, über jeden Besuch.
Er ekelte sich natürlich vor diesem "Bodensatz der Menschheit", wie er sie nannte, vor den fauligen Gerüchen in den Wohnungen und vor den verknöcherten und verkrüppelten Gestalten, die ihn mit ihrem faulig riechenden Atem in ihre faulig riechenden Wohnungen hineinließen. Aber er konnte noch jedes Mal seinen Ekel, sein Widerstreben einzutreten unterdrücken und durch fast übermenschliche Willensanstrengung freundlich und verständnisvoll wirken und bei Gerede über Schicksalsschläge, Krankheiten und Tod seinen Ramsch verkaufen, erinnerte er sich.
Die ganze Palette von Vertreterverkaufskram verkaufte er: Zeitschriftenabonnements, veraltete Staubsauger, Schrubber und Bürsten und Besen, Lexikonbandreihen, Pillen gegen Inkontinenz, gegen Erkältungen, gegen Magenbeschwerden, für Vitalität, Salben gegen Prellungen, Schwellungen, Wunden, Tinkturen gegen dies und für das... und er verkaufte gut.
Abends ging er dann gewöhnlich in den Puff, um die Widerwärtigkeiten seines Tagesgeschäfts zu vergessen, betäubte sich mit Frauenfleisch und Schaumweinsuff.
Im Grunde hasste er Frauen, dachte er, brauchte sie aber um zu vergessen, erinnerte er sich, als Gegenwelt zu seiner Vertreterwelt voller geistiger und körperlicher Krüppel, als Insel, als Ventil, um diese Toten zu vergessen, dachte er.
Eine Beziehung wäre nicht in Frage gekommen, weder damals, noch heute.
Noch mehr als Frauen hasste er Frauen, die nicht das taten, was er wollte und Frauen in Beziehungen tun nie das, was man will, wusste er, Beziehungsfrauen tun immer nur das Gegenteil von dem, was man will.
Er verließ den Park, überquerte die Strasse, sah sich um. Er war alleine.
Dann kam der Chinese.
Als er an einem Abend in einer Kneipe mit Vertreterkollegen feierte, saß dieser am Nebentisch und redete mit anderen Chinesen chinesisch. "Wie viel muss ich dir in deine Schlitzaugen schieben, damit du uns einen vortanzt, du dreckiger Hundefresser?", rief er spontan. Es war nur ein Witz, ein Scherz und er war stockbesoffen, aber der Chinese zerrte ihn hinaus und, während die anderen Chinesen seine Vertreterkollegen in Schach hielten, zerschlug ihn brutalst.
Mit etlichen Knochenbrüchen und inneren wie äußeren Blutungen wurde er damals ins Krankenhaus eingeliefert. Es sei ein Wunder, dass er noch lebe, sagten die Ärzte, als er wieder zu Bewusstsein kam, und sein rechtes Bein sei unrettbar zertrümmert gewesen und musste amputiert werden. Der Chinese wurde nie gefasst.
Als Einbeiniger war an eine Anstellung als Vertreter nicht mehr zu denken, dachte er damals sofort. Sein damaliger Chef sagte ihm dann auch, dass an eine Anstellung als Vertreter als Einbeiniger nicht mehr zu denken wäre.
Eine Therapie, welche ihm der behandelnde Arzt anriet, verweigerte er strikt.
Die nächsten Monate waren Isolationsmonate. Die Beinprothese war ein grausam eigenwilliger Fremdkörper und sein Stumpf juckte aufs Unerträglichste. Tagtäglich ging er in seiner Wohnung auf und ab, monatelang, hin und her. In seiner Abgeschiedenheit entwickelte er einen zunächst stillen, dann immer lauter werdenden, zuletzt brüllenden Hass auf alles Zweibeinige, besonders auf Chinesen. Er dachte an Selbstmord, doch diesen Triumph wollte er dem Chinesen nicht gönnen.
Ängstlich zitternd vor Erinnerung bog er in seine Straße ein.
Der Chinese, seine Kollegen, sein Chef, Alte, alte Behinderte, Witwen, Witwer, Frauen, Zweibeiner, dieses Pack war ihm zuwider. Er hasste es und es hasste ihn. Es sollte ihn fürchten lernen, dachte er.
Als das Geld knapp wurde, überwand er sich und machte eine Umschulung zum Call- Center-Agent, eine Idiotentätigkeit ohne Anspruch nannte er es.
Letztendlich fand er eine Anstellung als Datentypist bei einer namhaften Versicherungsanstalt, eine Beklopptenarbeit, die die Bezeichnung Arbeit gar nicht verdiene, sagte er oft zu sich, dachte er. "Rumgesitze, rumgetippe, alles Scheiße.", murmelte er.
Übellaunig betrat er den Hausflur, humpelte zum Fahrstuhl und ließ sich knatternd in sein Stockwerk hieven. Ein Geräusch ließ ihn aufhorchen, ein Knurren, wie im Park, und ein leises Scharren auf dem Fahrstuhldach. Bewegungslos starrte er auf die hellweiß strahlende Neonlichtblende. War da jemand auf dem Fahrstuhl? Konnte es sein, dass ihn jemand verfolgte, seitdem er aus dem Versicherungsgebäude gekommen war?
Mit einem Ruck stoppte der Fahrstuhl, die Tür öffnete sich mit einem schrillen Glockenton. Er trat in die Lichtschranke und lauschte. Wieder war nichts zu hören. Schneller als gewöhnlich humpelte er zu seiner Wohnungstür. Schwer atmend stand er noch eine Weile im Flur vor dem Garderobenspiegel.
Später setzte er sich mit einem dampfenden Fertiggericht vor den Fernseher. Die schlechten Programme steigerten seine Aufgeregtheit nur noch.
Er schaltete von Kanal zu Kanal und auf jedem Kanal sah er nur einen Grund zur Aufgeregtheit und auf jedem weiteren Kanal nur weitere Gründe zur Aufgeregtheit.
Am besten alle Programme erschießen, dachte er, ganz unkonzentriert vor Aufgeregtheit.
Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie sich die Wohnzimmertür langsam öffnete. Starr vor Schreck sah er aus der Dunkelheit des Flurs eine kugelförmige, böse knurrende Gestalt treten. Schwarze, leere Augen blickten ihn aus einem knolligen Körper an. Alte, ledrige, teils verfaulte Haut hing in Fetzen von dem schwer atmenden Körper voller Narben und offenen Wunden, aus denen bei jeder Atembewegung eine ölige Flüssigkeit rann.
Dem zerschundenen Torso entwuchsen knorrige, dürre Arme und Beine, an deren Enden scharfe Krallen ausgefahren waren. Unter dem großen, mit mehreren Reihen von Reißzähnen gespickten Maul hingen schlaff zwei ausgetrocknete weibliche Brüste, eine nur an einem dünnen Strang schwarzverfaulter Haut.
Sein Stumpf juckte irre, doch er war zu keiner Bewegung fähig.
Das Wesen bewegte sich auch nicht, stand nur starrend mit geöffnetem Maul in der Tür. Innerlich schrie er vor Todesangst, das Ding könnte seine scharfen Zähne in seinen Körper bohren, in seinen Hals, seinen Kopf. Sein Herz schlug schnell und laut, trommelte in seinem Schädel, gegen seinen Schädel, als ob es aus ihm heraus wollte, fliehen wollte.
Das Saalpublikum einer Fernsehsendung lachte laut auf. Hunderte von Menschen begannen auf einmal zu lachen. Der Stumpf brannte vor Schmerz und begann unwillkürlich zu zucken. Verzweifelte Panik brach in ihm aus, aber er getraute sich nicht aufzustehen und wegzurennen.
"Was willst du von mir?", schrie er. Tränen liefen ihm über das Gesicht. Das Ding fletschte die Zähne, zwischen denen noch gammlige Brocken vom Fleisch früherer Opfer hing.
Etwas zerbrach in ihm. Er spürte, wie sich sein Verstand verabschiedete. Im nächsten Moment sprang er auf, griff sich die neben seinem Fertigmenü liegende Gabel und stürmte schreiend auf das Ding zu. Das fuhr plötzlich seine Krallenklauen in die Höhe und rannte ihm brüllend und zähnefletschend entgegen.
Für einen Moment, kurz bevor es ihn ansprang, glaubte er in den schwarzen Augen des Wesens so etwas wie Mitleid erkennen zu können, dann spürte er, wie sein Schädel unter den Reißzähnen zersplitterte.
Es dauerte einige Tage, bis der Hausmeister, zusammen mit einem Polizisten und einem der Kollegen aus dem Büro, die Wohnungstür öffnete. Sie fanden seine Leiche halb im Wohnzimmer liegend in einem Haufen von Scherben vor dem zerstörten Garderobenspiegel im Flur. Eine Gabel steckte tief in seiner Stirn.