"Ihr verdammtes Glück"
Spannende Texte junger Autoren
von Thomas Anz und Oliver Pfohlmann (Hrsg.)
Verlag LiteraturWissenschaft.de (TransMIT)
Marburg an der Lahn 2001
Ohne Ausweg
von: Christian Liebetruth
Schon vor meiner Geburt lautete das Urteil: "Todesstrafe". Wie ich darauf komme?
Es liegt an meiner Abstammung. Allen von uns geht es so. Es gibt Randgruppen, die eigentlich keine sind, aber trotzdem keine Chance in dieser Gesellschaft erhalten. Seit ich das Licht der Welt erblickte, war ich eingesperrt. Meine Kindheit war der reinste Horror. Die Zelle musste ich mir mit 500 anderen teilen - aus Kostengründen.
Privatsphäre gab es nicht. Unsere Notdurft mussten wir vor den anderen verrichten. Es kam zwangsläufig zu Streitereien, die selten unblutig zu Ende gingen. Die Wächter kümmerten sich weder darum, noch um erkrankte Häftlinge. Sie waren nur darauf bedacht, dass keiner von uns entwischte.
Wie oft habe ich daran gedacht einfach auszubrechen ...
...Es war gegen Mitternacht, stockdunkel, als ich das letzte Mal versuchte zu türmen. Mit ein paar Freunden hatte ich einen Tunnel unter den Stacheldrahtzaun gegraben. Das Licht war schon vor Stunden gelöscht worden. Doch trotzdem traute sich keiner von uns, den ersten Schritt in Richtung Freiheit zu wagen. Es kursierten Horrorgeschichten, die von Insassen berichteten, die bei einem Fluchtversuch bestialisch umgebracht worden waren. Sie sollen regelrecht zerfleischt worden sein.
Einer von uns musste den ersten Schritt wagen.
Freiwillig bin ich nicht durch diesen vom Einsturz bedrohten Tunnel gekrochen, aber der Tag meiner Hinrichtung rückte immer näher. Sie sagen einem nicht, wann es so weit ist, aber ich hatte diese dunkle Vorahnung...
Langsam und ganz vorsichtig setzte ich einen Fuß nach dem anderen durch das dunkle Erdloch, das hoffentlich die Freiheit bedeutete. Noch nie hatte ich etwas anderes als den vom Neonlicht grell erleuchteten Knast gesehen.
Ungefähr auf der Hälfte der Strecke vernahm ich Stimmen und Schritte. Ich blieb stehen und traute mich kaum zu atmen. Die Stimmen wurden lauter. Ich konnte nicht verstehen was sie sagten, sie sprachen nicht meine Sprache. Doch ich wusste, wenn diese Bestien mich bemerken würden, wäre es der sichere Tod.
Plötzlich stoppten die Schritte. Waren sie immer noch außerhalb des Zellenblocks. Würden die Wächter eine nächtliche Kontrolle durchführen?
Hinter mir hörte ich ein leises Flüstern. Doch die Stimmen von draußen waren lauter. Ich begann zu schwitzen. Die Luft im Tunnel wurde knapp.
Sollte ich umkehren? Was würde geschehen, wenn sie mich erwischen würden?
Endlich - es waren wieder Schritte zu hören, die langsam leiser wurden. Ohne nachzudenken rannte ich los.
Einer Ohnmacht nahe erreichte ich den Tunnelausgang. Erschöpft aber glücklich fiel ich zu Boden. Mit dem Gesicht im Dreck schnaufte ich vor mich hin. Nach einer zu kurzen Ruhepause raffte ich mich auf. Vorsichtig blickte ich mich um. Wo waren die anderen?
Die Luft war doch rein! Nichts war von ihnen zu sehen!
Sie standen nicht mehr direkt an den Gitterstäben. Ich konnte nicht so weit sehen, ob sie sich nur in Sicherheit gebracht hatten oder ganz in die Flucht geschlagen worden waren.
Ich wartete. Jede Sekunde kam mir wie eine Ewigkeit vor.
Als sich nach einiger Zeit immer noch nichts regte, wurde mir klar, dass sich meine Freunde ihrem Schicksal ergeben hatten und lieber dem sicheren Tode ins Auge blickten als auf Risiko zu setzen, um zum ersten Mal das Tageslicht zu erblicken.
Behutsam schlich ich an den Gittern entlang. Gedanken schossen mir durch den Kopf.
Hatte der Weg durch den Tunnel zu lange gedauert?
Wurde es langsam hell draußen? Würden die Henker bald kommen?
Ich erhöhte mein Tempo. Ich ging nicht mehr, ich rannte.
Der staubige Gang nahm kein Ende. Meine Kräfte schwanden. Ich wurde wieder langsamer. Verzweiflung keimte in mir auf. Doch plötzlich stand ich vor einer Tür, die nach draußen führen musste. Aus meiner Verzweiflung wurde in Bruchteilen von Sekunden blanke Euphorie. Das Tor ins "Gelobte Land". Zwischen mir und der Freiheit standen nur noch zehn Zentimeter Stahl.
Doch damit stellte sich das nächste Problem. Wie sollte ich dieses schier unüberwindliche Hindernis hinter mir lassen?
Nach einigen Überlegungen beschloss ich zu warten, bis jemand die Tür öffnete, um dann so schnell ich konnte zu rennen.
In einer dunklen Ecke harrte ich der Dinge die da kommen sollten. Mein Zeitempfinden war außer Kraft gesetzt. Ich hatte keine Ahnung mehr, wie lange ich schon wartete. Meine Augen wurden immer schwerer, bis sie zufielen...
Als ich wieder erwachte, saß ich wieder in der verdammten Zelle. Alles war umsonst gewesen. Sie hatten mich zusammengekauert und schlafend vor der Tür gefunden und zurückgebracht.
Was ich nicht wusste war, dass ich bald abgeholt werden sollte. Ich war bei meiner letzten Chance zu entkommen einfach eingeschlafen. Als ich mich gerade wieder erholt hatte, wurde ich aus der Zelle geschleift.
Man packte mich am Hals und brachte mich in einen gefliesten Raum, der von grellem bläulichem Licht durchflutet war. Meine Augen brannten wie Feuer. Es war nicht möglich zu erkennen, was mich erwartete.
Plötzlich bekam ich einen harten Schlag ins Genick. Doch sie hatten nicht fest genug zugeschlagen. Ich ging nicht k.o. - die lange Zeit im Knast härtet eben ab.
Ich wurde an den Füßen aufgehängt. Umnachtet bemerkte ich, wie mein gesamtes Gewicht an meinen Fußgelenken hing. Wie bei tausend Nadelstichen schmerzte es in meinen Knöcheln.
Ich konnte es mir nicht erklären, warum sie mich mit dem Kopf nach unten aufgehängt hatten. Wird man nicht mit dem Kopf nach oben gehängt?
Doch die Schmerzen ließen mich nicht weiter darüber nachdenken. Ich schloss die Augen. In meinem Kopf drehte sich alles. Es fühlte sich an, als würde ich Karussell fahren.
Und ich fuhr wirklich! Allerdings nicht im Kreis, sondern seitwärts. Mit halb geöffneten Augen blickte ich in Fahrtrichtung. Die Welt um mich herum wirkte wie durch eine Seifenblase betrachtet.
Erst zu diesem Zeitpunkt bemerkte ich, dass nicht nur mich dieses Schicksal ereilte. Es war eine Massenhinrichtung. Vor mir hingen einige meiner Freunde und auch Fremde, die hierher gebracht worden waren. Ordentlich aufgereiht und an den Füßen aufgehängt bildeten wir eine Reihe. Ohne mein Zutun bewegte ich mich scheinbar immer schneller auf eine rotierende Kreissäge zu. Mit Stahlfesseln fixiert und dem Hals auf der Höhe des Sägeblatts gab es kein Entkommen...
In den letzten Sekunden, bevor der kalte blutverschmierte Stahl meine Kehle durchtrennte, lief mein gesamtes qualvolles Leben vor meinem inneren Auge ab.
Niemanden interessiert es, was in diesen Tötungsfabriken geschieht. Kein "Aufschrei" ist zu hören, der durch die scheinbar undurchdringlichen Mauern zu uns hereindringt. Hat nicht jeder ein Recht auf Leben?
Nun, es ist nicht so.
Damit sinnlos konsumiert werden kann, müssen Tausende leiden und sterben.
Was soll ich noch sagen?
Bis bald, im nächsten "Sechser Pack Chicken Nuggets"!!!
ENDE