"Ihr verdammtes Glück"

Spannende Texte junger Autoren

von Thomas Anz und Oliver Pfohlmann (Hrsg.)

Verlag LiteraturWissenschaft.de (TransMIT)
Marburg an der Lahn 2001

Inhalt

Sonnenuntergang

von: M. Vanessa Bergmann

Keine Einwölbungen waren auf seinem Rücken. Seine Hände tasteten weiter, hektischer, als sie nur die glatte, fast ebene Haut fühlten. Er verdrehte seinen Kopf, doch die Stelle an seinem Rücken, an der die Eingänge zu der zweiten Lunge durch Hautlappen verdeckt sein sollten, konnte er nicht sehen. Er müsste eigentlich einen stechenden Schmerz fühlen, so meinte er, wenn seine Finger grob und ungeschickt die empfindliche weiche Stelle an seinem Rücken abtasteten. Aber es gab keine weiche Stelle.

Sein Körper entspannte sich. Seine Arme ließen sich fallen. Seine Hände lagen bewegungslos neben seinen Beinen auf dem Fußboden, als würden sie sich ausruhen. Er wusste, sie würden gleich wieder an seinen Rücken greifen und suchen, um sich und ihm Gewissheit zu verschaffen. Er wusste, sie würden ihm keine Gewissheit geben.

Er stand auf, zog sich das Hemd über und verließ das fensterlose, von der Sonne hell erleuchtete Zimmer.

"Mama - Wir haben in der Schule den menschlichen Körper durchgenommen. Da - " Er brach seine Einleitung ab. Tränen liefen ihm plötzlich über das Gesicht.

Seine Mutter schaute ihn verwundert, bewegungslos, doch versteckt wissend an.

"Ich habe keine Kiemen." Seine Stimme, er zitterte. "Bitte schau nach, bitte! Bitte sag mir, dass sie da sind! Bitte sag mir, dass ich ein Mensch bin! Bitte!"

Er drehte ihr den Rücken zu und hob sein Hemd hoch, so dass sie seinen nackten Rücken sehen konnte.

Sie ging zu ihm, zog das Hemd wieder herunter. Langsam, behutsam löste sie den den Stoff umklammernden Griff seiner kleinen Hände. Ihre beiden Arme umschlossen ihn. Sie kniete sich vor ihn hin und drückte ihren Sohn fest an sich.

"Du bist ein Mensch. Du bist ein Mensch", flüsterte sie.

Er drehte sich um, schaute ihr ins Gesicht, wischte mit der Faust von dem rechten Auge über die Wange bis ans Kinn an einer Tränenspur entlang.

"Ich habe also doch Kiemen." Er rang nach Luft. Seine Stimme zitterte noch, wollte aber beruhigt klingen.

Er sah in die Augen seiner Mutter. Tränen hatten sich in ihnen gesammelt.

"Nein", flüsterte sie noch leiser als zuvor, kaum hörbar, aber klar.

Sie wollte ihn noch fester an sich drücken. Er stieß sich von ihr weg, starrte sie an.

Damon war sechs Jahre alt, als er den Tag kannte, an dem er sterben würde.

Das Sonnenlicht glitzerte auf der Wasseroberfläche, ohne sich oder auch nur irgendetwas darin zu spiegeln.

Er ging einen Schritt nach vorne. Die dunkelgraue, undurchsichtige Flüssigkeit umspülte seine Füße. Er schaute über das Meer. Der Horizont bildete eine starke Linie zwischen dem dunklen Wasser und dem hellen Himmel.

"Es muss noch etwas anderes geben", murmelte er wie für sich, "das hier kann nicht die ganze Welt sein. Es muss doch noch mehr geben. - Irgendwo, hinter dem Meer."

"Hinter dem Meer?" Sie hatte vorher ein wenig hinter ihm im Sand gesessen, stand nun auf. "Warum sollte es dahinter etwas geben?"

Sie stand neben ihm, versuchte in seine Augen zu sehen. Er starrte weiter auf das Meer hinaus.

"Blendet dich die Sonne manchmal?" Er drehte seinen Kopf plötzlich zu ihr und schaute zu ihr hinunter.

"Blenden? - Nein. - Wieso blenden?"

"Aber mich." Er schaute wieder in die Ferne.

"Du bist merkwürdig, Damon. - Die anderen haben doch Recht."

Sie ging ein Stück weiter ins Wasser, von ihm weg. Das Wasser war warm, fast heiß, von der Sonne aufgeheizt. Aber es machte ihr nichts aus. Es war kühler als die Luft.

"Meine Mutter hat früher, als ich klein war, immer darauf geachtet, dass ich ein Hemd anhatte, wenn ich aus dem Haus ging." Er schaute auf ihren Rücken.

"Na und?" Sie beobachtete, wie weiche Wellen ihre Knie verschlangen und wieder freigaben.

"Und siehst du, auch heute trage ich ein Hemd."

Sie drehte sich zu ihm um. Er trug ein Hemd. Er trug immer ein Hemd.

"Warum? - Und warum sagst du das jetzt?"

Sie zwang ihre Hände dazu, aufzuhören mit den Wellen zu spielen.

"Ich" - Sie schaute ihn an, blinzelnd, aber wahrscheinlich nur, um ihn genauer sehen zu können. - "Ich", wiederholte er sich. Er suchte nach Worten, obwohl er wusste, dass es dafür keine anderen Worte gab: "Ich werde bald sterben."

"Wie?" Sie blieb stehen, ihr Körper gab nicht den diktierenden Bewegungen der Wellen nach. "Bist du krank?"

"Nein. - Oder eigentlich doch. - Nein. - Oder, wie man es sieht - "

Er überlegte, schaute sie dann fast wie verlegen an.

"Was nun? Soll das ein blöder Scherz sein? Oder wieder nur eine deiner merkwürdigen Bemerkungen? Man sagt so etwas nicht einfach so. Was soll das jetzt? Und was sollte das mit dem Geblendet werden und dem Hemd?"

Sie war wohl zu Recht ärgerlich. Seine Andeutungen waren mehr als merkwürdig gewesen.

"Ich bin anders als die anderen Menschen."

Sie schaute ihn wartend an. In ihren Augen lag ein stummes "Ja, und?"

"Meine Mutter wollte mich immer davor beschützen, ausgegrenzt zu sein. Sie wollte nicht, dass jemand erfährt, dass ich anders bin. Aber ich weiß es. Und weil ich es weiß, weiß ich auch, dass ich niemals wie sie, niemals einer von ihnen sein kann. Und deshalb bin ich auch wirklich anders als sie. Ich verhalte mich anders, bin anders. Bei jedem Schritt. Bei jedem Wort. Bei jedem - ", er stockte, "Atemzug. Sie wissen, dass ich anders bin als sie, ohne zu wissen, warum."

Sie schaute ihn, Mitleid zeigen wollend, an. Sie hatte ihn auch nur als merkwürdigen Außenseiter kennen gelernt.

"Wäre ich nicht auch anders, wenn ich nicht wirklich anders wäre?" sagte er für sich. Sie hörte es nicht oder überhörte es.

"Du weißt doch, es gibt die Sonne, und immer scheint sie. Bis es Nacht wird. - "

Sie wollte ihn, offensichtlich ungeduldiger werdend, unterbrechen.

"Hör zu. - Ich weiß, du kennst das alles schon", fuhr er fort. "Die Sonne scheint die ganze Zeit auf die Erde - auf das, was wir die Welt nennen - dreißig Jahre lang. Sie wandert über den Himmel, wird kleiner, wird größer. Aber immer ist sie da; bis sie ganz tief steht und plötzlich verschwindet. Dann kommt die Dunkelheit. - Kannst du dir das vorstellen? Kannst du dir die Dunkelheit vorstellen? - Ich habe schon oft versucht, mir die Hände so fest vor die Augen zu halten, dass ich sie sehen könnte. Aber es klappt nicht. Die Dunkelheit muss anders aussehen. Man sieht nichts und trotzdem weiß man, da ist etwas. - Ich weiß nicht, eigentlich habe ich keine Angst vor der Dunkelheit; aber was nach der Dunkelheit kommt, nach der Stille - "

"Hey!"

Eine dunkle, laute Stimme ließ Damon verstummen. Er drehte sich nicht um, stand bewegungslos da. Sein Kopf hatte sich langsam nach unten gesenkt, so als würde er beobachten, wie das Wasser an seinen Knöcheln wippte.

Einige Mädchen waren zu Shiri gelaufen, umkreisten sie. Eine umklammerte leicht Shiris Handgelenk, zog wie spielend an ihrem Arm.

"Was machst du denn mit dem da hier", flüsterte sie, laut genug, dass es Damon verstehen sollte.

"Ach, nichts. Wir haben uns nur unterhalten", antwortete sie, wobei sie versuchte in seine Augen zu sehen.

"Hey!" wiederholte die Stimme lauter. "Was macht ihr hier?"

"Nichts, wir - ", begann Shiri, wie um sich zu verteidigen.

"Ich hab ihn gefragt."

Er schaute sie kurz an, stellte sich dann vor Damon, blickte Damon an, wartend.

Damon bewegte sich nicht.

"Hey, hast du nicht gehört! Ich red mit dir!"

Damon bewegte sich nicht. Damons Augen blickten halb geschlossen ins Wasser.

"Hey!" Er brüllte in Damons Gesicht. Er schritt auf Damon zu und hob kurz seine Hände, die Muskeln angespannt, als wollte er Damon angreifen, ließ die Arme dann aber entspannt fallen und drehte sich von Damon weg, "Idiot!" murmelnd.

"Komm, wir gehen!"

Er hatte Damon seinen Rücken zugewandt. Die Mädchen wichen unaufgefordert sofort zur Seite. Er ging auf Shiri zu, blieb neben ihr stehen, sah sie von der Seite her an. Sie bewegte sich nicht, blickte ihn nicht an. Sie sah erst unsicher ins Wasser, dann auf, mit fast zitternden Augen zu Damon. Sie meinte, das Schwarz in Damons Augen erkannt zu haben.

"Komm!" Er stand direkt neben ihr. Ihre Schultern berührten fast seinen Oberkörper. Wenn er einatmete, streifte seine Haut fast ihre.

"Komm!!"

Sie spürte, wie seine Stimme wie ein Windzug durch ihr Haar ging.

"Ich bleibe hier", sagte sie ruhig, fast leise, ohne ihn oder Damon direkt anzuschauen.

Damon blickte mit den Augen auf, in ihre Richtung, ohne den Kopf zu bewegen.

"Jetzt komm schon mit!"

"Nein. - Wieso sollte ich?" Sie drehte ihren Kopf zu ihm. Sie wollte stärker wirken als er.

"Ich hab gesagt, du sollst mitkommen!"

Sie zeigte keine andere Reaktion, außer ihn weiterhin anzustarren.

Er griff ihren Arm - seine Hand umklammerte ihn fest - , wollte gehen und sie so mit sich ziehen. Sie zog dagegen, nachdem sie durch den plötzlichen Ruck gestolpert war. Ihre freie Hand versuchte, seinen Griff zu lösen. Ihr Gesicht verzog sich vor Anstrengung. Trotz ihrer Bemühungen wäre es ein Leichtes für ihn gewesen, sie wegzuzerren.

"Lass sie los!"

Er hörte auf zu ziehen, lockerte den Griff, nicht ganz. Seine Hand umschloss noch immer ihren Arm.

Damon schaute ihn direkt an, die Gesichtsmuskeln angespannt, die Augen klein.

"Was?!" fragte er gespielt ungläubig, sich überlegen fühlend.

"Du sollst sie loslassen." Damon blieb nach seinem ersten, fast schreienden Ausruf unerwartet ruhig.

Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare, lachte kurz auf, schaute zu seinen Freunden, die alle ein wenig abseits standen, aber nahe genug, um ihm Unterstützung zu geben, wenn er sie jemals brauchen sollte.

Damon starrte weiter auf ihn, wollte fast auf ihn zugehen.

Shiri bewegte sich und ihre Blicke hektisch abwechselnd zwischen den beiden.

"Sie will doch hierbleiben. Lass sie in Ruhe!"

"Was sagst du?" Er ließ ihre Hand fallen, ging zwei Schritte. Seine Bewegungen brachten die Wellen durcheinander, sie ergaben sich ihm, folgten ihm.

Shiri schaute Damon an. Dieser nahm ihren Blick auf. Sie schüttelte leise ihren Kopf. Ihre Stirn war kraus gezogen, der Mund geschlossen zu einem geraden Strich.

"Sie will doch hierbleiben. Also lass uns und verpiss dich, du - "

"Pass auf, was du sagst!" Eine Ader über seiner Schläfe pochte.

"Du hast sie doch gehört! Sie will nicht mitgehen!" Damon blieb die ganze Zeit an derselben Stelle stehen. Seine Füße waren schon zum Teil von nassem Sand bedeckt.

"Was willst du?! Was mischst du dich in Sachen ein, die dich überhaupt nichts angehen! Du willst wohl unbedingt Ärger haben, oder was?" Er stand in einiger Entfernung vor Damon, aber so nah, dass seine Fäuste noch Damon erreichen könnten.

"Frag sie doch! Sie hat es doch gesagt! Und alle haben es gehört! Dass du sie gegen ihren Willen zum Gehen zwingen willst!" Damon blickte mit einer Geste zu den Umherstehenden. Erst jetzt merkte Damon, dass seine Hände und Arme die ganze Zeit mitgeredet hatten.

Sein Gegenüber blieb einen Moment lang ruhig, schaute sich dann ebenfalls um. Ein Auflachen, das verlegen wirkte, wurde zu einem Grinsen in seinem Gesicht. Dieses Gesicht drehte sich zu Shiri. Sie war noch ein wenig weiter ins Wasser gegangen.

"Willst du hierbleiben?" Er fragte sie ganz ruhig.

Ihre Augen zuckten. Ihre Hand rieb wie unbewusst die Stelle an ihrem Arm, die vorher eine größere, kräftigere Hand zerdrückt hatte.

Damon blickte sie an, wartend, sicher.

"Nein", sagte sie leise und wollte ihre Augen schließen, sah dann aber zu Damon, als wollte sie durch ihren Blick irgendeine Erklärung geben.

Ein selbstsicheres tiefes Auflachen zog Shiri mit sich. Die anderen folgten. Damon starrte auf das Meer, sah ihnen nicht nach, sah ihr nicht nach. Sie verdrehte im Weggehen ihren Kopf. Als sie merkte, dass Damons Blick ihr nicht folgte, ging sie, ohne sich nochmals umzusehen, davon.

"Hallo!" Sie lächelte. " - es tut mir leid wegen neulich." Sie setzte sich neben ihn. Dabei beobachtete sie ihn genau.

"Was? Dass deine Freunde mich hassen? Oder dass du mit ihnen weggegangen bist?"

Er sagte dies, ohne sie anzuschauen. Ihre Finger griffen nach einer ihrer Haarsträhnen. Das Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden.

"Nein", er schaute sie fast lächelnd an. "Es tut mir leid. Ich bin gar nicht wütend. Ich will nicht mehr wütend sein."

Sie strahlte wieder, jetzt befreit.

"Willst du nicht mitkommen, wenn wir die Dämmerung feiern?"

Sie las ein "Nein." aus seinem Gesichtsausdruck.

" - Die anderen werden schon nichts sagen. Und wenn schon! Sollen sie doch! Ist doch auch egal, was die - "

"Nein", unterbrach er sie, seine Stimme war ganz ruhig, "es geht nicht."

"Aber - " Zwischen ihren Augen zog sich die Haut vor Anspannung zu kleinen Rillen.

"Nein. Es hat nichts mit ihnen zu tun. Und auch nicht mit dir." Dabei blickte er sie an, als wollte er durch diese Worte alle Schuldgefühle von ihr nehmen.

"Ich versteh das nicht." Ihre Hand legte eine Haarsträhne hinter das Ohr. Der Boden unter ihren Füßen war grau und fest. "Ist es", sie stockte, "weil du, wie du gesagt hast, sterben wirst?" Sie war unsicher, diese Frage zu stellen. "Was hast du damit gemeint? Ist das wahr? Wirst du wirklich bald sterben?"

"Ich habe dir doch von der Dunkelheit erzählt - "

"Fang nicht wieder damit an! Sag endlich, was los ist!" Ihr Gesicht wollte Ärgernis zeigen.

" - Du weißt doch", fuhr er, ohne darauf zu reagieren, fort, als hätte er sich schon vorher seinen Vortrag genauestens überlegt, "wenn die Dunkelheit da ist, gehen du und alle anderen Menschen unter die Erde und leben dort. - "

"Ja, weil der Regen kommt. Das habe ich alles schon in der Schule gelernt. - Warum erzählst du mir das?"

Er stand auf. Sie wollte sich auch erheben, ihm nachgehen. Sie zuckte für einen Moment. Sie blieb aber sitzen, als sie merkte, dass er einige Schritte vor ihr stehen blieb, mit dem Rücken zu ihr.

"Ich trage immer ein Hemd."

Noch bevor sie auf diese Aussage eine verwunderte Reaktion geben konnte, hob er sein Hemd hoch, zog es aus. Sie sah auf seinen nackten Rücken. Ihr Mund öffnete sich, als wollte sie etwas sagen. Doch sie wusste nicht was. Nur eine kleine Stelle war anders. Aber diese Stelle war alles, was sie sah. Es war wie ein Gesicht ohne Nase. Er drehte sich zu ihr um. Sie schien erschreckt, entsetzt - so starr waren ihre Gesichtszüge, aber auch traurig.

"Niemand außer dir weiß es. Ich musste es einfach jemandem erzählen." Er atmete ein. "Ich musste es dir erzählen."

Sie saß immer noch so da, als wäre der Ausdruck in ihrem Gesicht eingefroren.

"Du weißt es nun. - Ich werde sterben."

Er drehte sich von ihr weg, warf das zusammengeknüllte Hemd mit einer durch einen Laut ausgedrückten Kraftanstrengung der niedrig stehenden Sonne entgegen.

"Aber, aber - nein!" Sie war aufgestanden, schüttelte ihren Kopf. Ein Wind durchwehte ihre Haare. Es war ein kühler Wind. Er ließ sie zittern. "Du kommst mit unter die Erde! Du wirst nicht sterben!"

Er drehte sich zu ihr. Er lächelte fast, obwohl seine Augen traurig waren.

"Ich kann nicht mitkommen. Die Luft da unten - ich kann dort nicht atmen."

Sie wirkte verwirrt. Sie hatte wohl niemals über die Luft unter der Erde nachgedacht. Für sie war es einfach. Sie würde einfach, ganz automatisch da unten weiterleben.

"Aber vielleicht - Man kann doch bestimmt eine Operation machen. - Man muss doch nur etwas aufschneiden - " Ihre Augen glitzerten.

"Nein. Das geht nicht", sagte er ernst, bestimmt. "Verstehst du nicht? Ich kann die Luft nicht atmen. Mir fehlt die zweite Lunge. Die Luft ist Gift für meinen Körper. - Ich kann noch nicht einmal im Meer schwimmen, weil es voll mit dieser Luft ist." Seine Arme bewegten sich mit, als er mit wachsender Aufregung weiterredete. Seine Stimme wurde lauter, steigerte sich. Sein Gesicht wurde dunkler. In seinen Augen sammelten sich Tränen. "Wenn ich unter die Erde gehe, werde ich ersticken. Und hier", er blickte erst um sich und dann zum Himmel, "hier wird der Regen mich verbrennen."

Er schaute wieder gegen die Sonne, blinzelnd.

"Aber irgendjemand muss dir doch helfen können! - Es muss doch jemanden geben. - Irgendjemand muss doch wissen, was man tun kann."

Sie versuchte ihn zu berühren. Er wich zurück.

"Das Meer!" Sie deutete in eine andere Richtung. "Hinter dem Meer! - Du hast doch gesagt, da gibt es noch etwas, eine andere Welt. - Du musst übers Meer!"

Er fasste sie an beiden Schultern an. Seine Hände umklammerten sie so fest, dass es ihr weh tun musste.

"Wie soll ich da hinüberkommen?" Er schrie fast. "Ich kann doch nicht darin schwimmen! Und es gibt nichts, was mich hinüber tragen könnte! - Und jetzt ist es eh zu spät." Er ließ sie los, schaute zu Boden. Sie wich einen Schritt zurück. "Ich würde verbrennen, bevor ich Land erreichen würde."

"Aber irgendetwas muss es doch geben. Du darfst doch nicht aufgeben!" Sie wollte wohl beruhigend wirken. In ihrer Stimme klang Panik mit.

"Ich darf aufgeben", sagte er kühl, nirgendwohin starrend. "Ich habe fünfzehn Jahre lang gehofft. Aber jetzt gebe ich auf."

"Nein - aber es muss eine Möglichkeit geben! - Vielleicht gibt es ja keinen Regen! - Es muss eine Möglichkeit geben", ihre Stimme wurde von Tränen verschluckt.

Er nahm ihr Gesicht in seine Hände. Sie zitterte. Sein Daumen wischte ihr eine Träne über die Wange.

"Shiri, komm! Komm! - Wir müssen gehen!"

Zwei Mädchen waren herbeigelaufen gekommen. Eine nahm ihren Arm. Sie zogen sie mit sich.

"Nein, nein", ihre Stimme überschlug sich. "Nein!" wie ein weinender Schrei, aber ohne sich zu wehren. Sie ließ sich von ihnen wegführen. Sie behielt ihr Gesicht zu ihm gewendet, als sie sich entfernten. Sie sah ihn, sah seinen Rücken.