"Ihr verdammtes Glück"

Spannende Texte junger Autoren

von Thomas Anz und Oliver Pfohlmann (Hrsg.)

Verlag LiteraturWissenschaft.de (TransMIT)
Marburg an der Lahn 2001

Vorwort

von: Thomas Anz und Oliver Pfohlmann

Über Kleists Erzählungen urteilte Thomas Mann einmal: "Er weiß auf die Folter zu spannen - und es fertig zu bringen, dass wir's ihm danken." In der Tat: Wann immer wir einen Text lesen, sind wir dankbar, wenn es dem Autor gelingt, Spannung zu erzeugen und unsere Aufmerksamkeit zu fesseln.

Das ist, aus mehrerlei Gründen, merkwürdig. Warum sollte ein Leser dankbar sein für den quälenden Zustand der Ungewissheit, den der Autor in ihm auslöst? Phasen der Spannung, soviel haben Emotionsforschung und Literaturwissenschaft inzwischen herausgefunden, sind gekennzeichnet von Lust- und zugleich von Unlustgefühlen beim Lesen, von Wünschen, die erst spät oder auch gar nicht erfüllt werden, von der Erfahrung eines Mangels oder von Bedürfnissen, deren Befriedigung immer weiter aufgeschoben wird, vom Erleben eines Begehrens, dem sich immer neue Hindernisse in den Weg stellen - warum sollte dieser ungemütliche Zustand erstrebenswert sein? Und warum wird Spannung, wenn sie uns beim Lesen so wichtig ist, von der Literaturwissenschaft stark vernachlässigt und zu einem konstitutiven Merkmal vor allem von Trivialliteratur gezählt? Noch mehr Fragen werden freilich aufgeworfen, wendet man sich dem Phänomen selbst zu: Was ist Spannung? Welche Arten von Spannung gibt es? Gibt es Techniken, mit denen sie sich erzeugen lässt?

Ein spannendes Thema, die Spannung. Unter dem Titel "Spannung: Erzählungen selber schreiben und kritisieren" widmete sich ihm im Sommersemester 2001 eine Übung mit 50 Studierenden der Philipps-Universität Marburg unter Leitung von Thomas Anz und Oliver Pfohlmann. Wie der Titel verrät, besorgten die Studierenden das Analyse- und Übungsmaterial selbst: Teilnahmebedingung war das Anfertigen einer Kurzgeschichte mit beliebigem Thema, die vor allem eines sein sollte: spannend. Jeder der Texte wurde im Verlauf der Übung ausführlich diskutiert, unter dem Gesichtspunkt "Spannung" analysiert und bewertet. Und rezensiert. Nicht nur das Schreiben literarischer, auch das Schreiben literaturkritischer Texte wurde in der Übung praktiziert.

Für Spannung war demnach in den Sitzungen durch das Vorlesen der Rezensionen und der von ihnen und den Texten angeregten Diskussionen gesorgt. Hinzu kam der Rahmen des Literaturwettbewerbs: Zu Beginn jeder Sitzung vergaben die Teilnehmer auf Stimmzetteln Bewertungen zu den Texten, die zur Diskussion standen. Die Abstimmungsergebnisse blieben bis zur vorletzten Sitzung geheim, bei der sich dann die zehn Autoren mit den meisten Stimmen noch einmal zur Wahl stellen mussten: Unter ihnen wurden von den Teilnehmern und durch ein zusätzliches Sondervotum der Dozenten die Sieger ermittelt, die sich bei der abschließenden Lesung am 5. Juli 2001 vor einem zahlreich erschienenen Publikum feiern lassen konnten. Es waren dies Michelle Grothe, Charlotte Inden, Leena Peters und Laslo Scholtze.

Neben diesen Siegertexten enthält die folgende Auswahl auch die übrigen sechs Texte der Endauswahl sowie einige weitere, die wir, die Dozenten, besonders lesenswert fanden. Spannung, das machen die hier versammelten Texte deutlich, ist nicht gleich Spannung: Zukunftsspannung, bei der der Leser begierig den Ausgang des Geschehens erwartet, steht in den Geschichten Silvia Bannenbergs ("Ein Sommermorgen"), Jens-Holger Finks ("Regenzeit"), André Kamphaus' ("Zu später Stunde"), Christian Liebetruths ("Ohne Ausweg") und Myriam Priens ("33 Jahre später") im Vordergrund. Um Rätselspannung, bei der sich der Leser wie bei einem Analytischen Drama oder einer Detektivgeschichte die Aufdeckung eines in der Vergangenheit liegenden, mysteriösen Geschehen wünscht, geht es dagegen vor allem in den Texten Tabea Hosches ("Lena rot"), Heike Nieders ("Der alte Mann") und Dominic Pfaus ("Weißes Blut im Schnee"). Mehr aus Sprache, Stil und syntaktischen Strukturen beziehen die Texte Charlotte Indens ("Wohin gehst du?"), Patrick Kollmers ("Das Monster") und Laslo Scholtze ("Rahel") ihre Spannung. Um ein kalkuliertes Spiel mit der mehr oder weniger großen Informiertheit von literarischen Figuren und Lesern handelt es sich bei den Geschichten M. Vanessa Bergmanns ("Sonnenuntergang"), Michelle Grothes ("Erwachen") und Leena Peters ("Ihr verdammtes Glück").

Wie sehr literarische Texte oft aus ganz unterschiedlichen Quellen für Lust- und Spannungsgewinn beim Rezipienten sorgen können, beweisen gerade die Texte Grothes und Peters: Zukunfts- kann mit Rätselspannung kombiniert werden; Informationen können die Erwartungen und Wünsche des Lesers in die falsche Richtung führen und zu schmerzlichen Überraschungen führen; sympathisch scheinende Protagonisten können den Leser vorschnell zur Identifikation verführen und später vor um so größere moralische Konflikte stellen.

Eine Auswahl der hier vorgestellten Erzählungen bietet der Verlag LiteraturWissenschaft.de im Frühjahr 2002 auch in gedruckter Form an.

Marburg im November 2001
Thomas Anz und Oliver Pfohlmann