"Ihr verdammtes Glück"
Spannende Texte junger Autoren
von Thomas Anz und Oliver Pfohlmann (Hrsg.)
Verlag LiteraturWissenschaft.de (TransMIT)
Marburg an der Lahn 2001
Weißes Blut im Schnee
von: Dominic Pfau
Die Lichtstrahlen der untergehenden Sonne brachen sich in den Eisblumen des kleinen Fensters der Blockhütte und leuchteten auf dem groben Holztisch in den vielfältigsten Farben und Formen wider. Der gesamte Raum der Blockhütte war schwach erleuchtet. Ein kräftiger Mann in Samentracht saß am Tisch, stützte sich auf seine Ellbogen und schien mit gesenktem Haupt in die Lichtspiele auf der Tischplatte versunken.
Jonathan Jensen blickte aus dem Fenster und sah die weite schneebedeckte Tundra Nordnorwegens in ihrem abendlichen Glanz erstrahlen. Sein Blick tastete die seichten Hügel der Landschaft ab, strich über die schneebedeckten Tannen und erfreute sich kurz an den glitzernden Schneekristallen. Er drehte sich um und warf einen Handschuh auf den Tisch. Mit einem Zucken bestätigte der kräftige Mann den Empfang eines linken Fellhandschuhs. Jonathan indes entschloss sich, weiter aus dem kleinen Fenster der Blockhütte zu sehen. Ein leises Rauschen hörte er durch den undichten Fensterrahmen, das nur dicke Schneeflocken machen, wenn sie, ohne vom Wind gehetzt zu sein, schwer auf Schnee niederfallen. Er dachte an Oslo, an seine Heimat. Hier in der Wildnis, in diesem kleinen Raum der verschneiten Hütte glaubte er, Oslo sei seine Heimat. Doch wäre er jetzt dort, er würde es bestimmt nicht so empfinden. Vor drei Jahren nahm er an einem Umsiedlungsprogramm teil. Die schlechte Luft in der Stadt und den Behördendienst in einer großen Polizeiwache mitten in der Stadt konnte er damals selten vor den anderen als sein Leben ausgeben. Nun genossen seine Kinder die neue Umgebung, er und seine Frau die Ruhe und den Raum der Landschaft. Sie wurde damals ebenso freundlich wie er von den Einheimischen aufgenommen. Die Schule, in der seine Frau Hedda eine Stelle gefunden hatte, veranstaltete an ihrem ersten Arbeitstag ein Willkommensfest. Den ersten Tag erzählte Hedda den Schülern und Lehrern von ihrem Leben in der Stadt, von ihrer Familie und über sich. An der Schule hatte sie die Möglichkeit bekommen, sich ganz den Schülern zu widmen und zugleich mit deren Eltern befreundet zu sein.
Wie sehr, dachte er, stand der Grund seines Aufenthalts in dieser Blockhütte in Widerspruch zu dem, was ihm in den letzten Jahren in dieser kleinen Gemeinde in der Finmarksvidda begegnet war.
Als seine Finger die dicken Holzstämme der Blockhauswand berührten, durchlebte er die letzten sieben Stunden noch einmal. Den Geruch der kalten nächtlichen Stunde, als ihn Jost Tveita aufgeweckt hatte. Forsch und kommentarlos war die Aufforderung gewesen, ihn zum Imanirävi zu begleiten. Wie sie eine Stunde stumm nebeneinander im Auto gefahren waren und durch die Windschutzscheibe das verrückte Tanzen der Schneeflocken angestarrt hatten, das Geräusch, das die Schneeschuhe gemacht hatten, als Jost sie im Scheinwerferlicht des Pickups vor ihn in den Neuschnee geworfen hatte. Wie sie zwei Stunden an dem Ufer des Imanirävi entlanggegangen waren und Jost nur wenige tonlose Worte von sich gegeben hatte, als er in die Richtung des Melensdalenvossen gezeigt hatte. Jetzt sinnierte er, wie wenig er mit dem zu tun gehabt hatte, was sich immer klarer und deutlicher in der Morgendämmerung vor ihm aufbaute, als er in Richtung des Melendalenvossen ging. Die letzten fünfzehn Meter des langen Marsches mit Jost Tveita erlebte er noch einmal:
Er erblickt den verschneiten Motorschlitten, der geduldig neben einer Kiefer steht. Dann sieht er über den Schlitten hinweg in eine Mulde, die jemand um den Stamm der weit ausladenden Kiefer gegraben hat. Ganz langsam, wie von etwas angezogen, nähert er sich gehör- und körperlos dieser Mulde. In diesem Moment ist er nur noch sein eigener Blick, weder den Schnee noch irgendetwas anderes meint er zu berühren.
So schwebt er weiter und sieht einen Mann in Samentracht an den Stamm angelehnt sitzen. Sein Kopf ruht auf seinen Schultern. Die Ruhe in seinem Gesicht erinnert ihn an die Gelassenheit, die porträtierten Gesichtern eigen ist. Die weichen, ruhenden Gesichtszüge, die Mundwinkel, die ganz leicht nach oben gezogen sind, als ob sie sich gerade zu einem Lächeln formen möchten: All dies erinnert ihn an ein Kind, das rückwärts gegen einen Stamm geplumpst ist und dessen Gesicht sich für wenige Momente nicht entscheiden kann, ob es ein Lachen oder ein Weinen hervorbringen soll. Doch das Gesicht des Mannes ist von innen mit einem Stahlblau überzogen. Im Stamm der Tanne sind Einkerbungen. Darüber steckt ein perlenbesetztes Messer.
Jost geht zu dem Baum, öffnet die Felljacke des Mannes und zeigt Jonathan das Blut auf der rechten Seite der Brust, zeigt ihm die Wunde, die Hände des Mannes mit den Handschuhen und den dritten Fellhandschuh, der neben den eingeschneiten Füßen liegt. Noch einmal hört er Josts Worte und seine Verdächtigungen.
Jonathans Hände waren kalt und feucht geworden, nachdem sie über den Balken der Blockhütte gestrichen waren.
Nun war es Zeit für ihn zu sprechen, dies spürte er, das auszusprechen, was er aus den Gegebenheiten lesen musste. Mit Entschlossenheit wollte er das ausführen, was die Umstände der letzten Stunden ihm aufnötigten. Er setzte sich an den Tisch, dem Mann gegenüber, beugte sich etwas nach vorne und versuchte, mit seiner Entschlossenheit die Unruhe, die von dem Blick seines Gegenübers ausging, zu bannen.
"Eins und eins ergibt ein Paar. Richtig? Einen Handschuh habe ich draußen in dem rechten Winterhandschuh deines Ski-Doos gefunden. Den anderen bei dem toten Luokta Svenson. Der Tankwart von der alten Tankstelle an der E-6 hat dir vor drei Tagen Benzin verkauft. Du hast ihm erzählt, dass du mit Luokta Svenson ins Melendalen fahren wolltest. Ihr wolltet anfangen, die Rentierherde für die Winterscheide zusammenzutreiben. In der Nähe der Tanne, wo jetzt Luokta Svenson liegt, habe ich noch weitere Ski-Doo-Spuren und Fußabdrücke entdeckt, die sich bestimmt auch irgendjemanden zuordnen lassen. Damit ich nicht beschuldigt werde, ich sei nicht aufrichtig: Als ich mit Jost wieder beim Auto war, habe ich den Mord der Polizeibehörde in Narrvik gefunkt. In zwei, drei Stunden werden sie hier eintreffen und den Fall untersuchen."
Fast ohne eine äußerliche Regung zogen die Worte an dem Mann vorbei. Nur seinen Kopf wiegte er ein wenig hin und her; er verfolgte aber weiter die Spiele des gebrochenen Lichts auf der Tischplatte. "Das Messer steckt bestimmt nicht seit dem letzten Sommer im Baumstamm", hob Jonathan an, "und Luoktas Messer war es auch nicht. Könnte ich mal dein Messer sehen? Oder nein, gib mir einfach deine leere Gürteltasche. Ich kann mich selbst vergewissern, dass beides zusammenpasst."
Der Mann stand auf, öffnete seinen Gürtel, warf die Gürteltasche neben den Handschuh auf den Tisch und setzte sich wieder. Diese Geste, die eine unverschämte Kühle in Anbetracht der Anschuldigungen besaß, ergriff Jonathan vollends und verleitete ihn dazu, seinem Unverständnis in voller Lautstärke Ausdruck zu geben: "Kein Wort sagst du mir über das, was da draußen geschehen ist. Stattdessen tust du so, als ob wir hier über jemand Dritten reden. Scheiße!!! Sag mir, was da draußen los war!"
Allmählich bewegte sich der Blick von den Lichtspielen weg, schnitt durch den Raum und stach in Jonathans Augen. Der Mann öffnete den Mund, er schien Worte für einen Angriff zu sammeln: "Wenn wir sind, so sind wir nicht nur bloß dort, wo wir zu sein meinen. Wir sind auch mit den Abwesenden. Aber stets müssen wir für den Anderen mehr sein, als für das Wenige, das wir das Eigene nennen. Ich habe... Ich bin für die Anderen und habe vorgestern das getan, wofür es in eurer Sprache nur das falsche Wort 'Pflicht' gibt. Ich würde es aus Einsicht wieder tun, und hier gibt es keine Schuld."
Jonathan trennte sich von dem Blick des Mannes und drehte sich zum Fenster: "Scheiße, Scheiße! Scheiße sagst du da. Was da draußen los war, hab ich gefragt. Nichts anderes!" Der Mann strich sich kurz über die Wange und sprach: "Wenn ich dir erzählen würde, was draußen im Schnee mit Luokta geschehen ist, so könntest du es nicht verstehen. Du kannst nicht sehen was war, wenn du nicht Luokta und mich in deinen Blick mit aufnimmst. Wenn du jetzt durch das Fenster nach draußen siehst, sag mir, was fällt da vom Himmel?"
"Blöde Frage! Ich tippe mal auf weiße Äpfel in Schneeflockenform. Was war da draußen los?" "Ich werde alle Fragen beantworten, doch in meiner Form. Dazu musst du aber zuerst meine Sprache verstehen. Du oder ihr würdet doch sagen, es fällt Schnee? Wir kennen dieses Wort nicht, weil wir nicht nur Schnee sehen. Dieser Schnee, der vom Himmel fällt, ist ganz weich und warm. Wenn er auf den älteren Schnee fällt, vereinigt er sich sofort mit ihm, und beide werden eins; sie bedecken die Erde als Eines und sind so die Erde. Unser Wort ist Henkaipan für diesen Schnee."
Jonathan wollte auf Antworten drängen, doch er fühlte, dass der Mann von sich aus sprechen würde: "Nun, Hågon, wie ich gehört habe, warst du sehr gut mit Luokta befreundet. Wie kommt es zu deiner Kühle? Ist dir egal, was mit ihm geschehen ist?" "Ich bin sein Freund. Unsere Geschichte kann ich dir erzählen, doch sie wird dich verändern, deine Sichtweise auf das, was geschehen ist und vielleicht auch auf das, was für dich kommen wird." "Seit Stunden bin ich doch genau dafür bereit." entgegnete Jonathan.
"Wir sind vor drei Tagen mit den Motorschlitten losgefahren, um die Rentierherde für die Winterscheide zusammenzutreiben. Eigentlich wollte ich alleine fahren, doch Luokta sagte, dass er mir helfen möchte. Wir starteten im Ossendalen. Vier Stunden sind wir durch das Tal gefahren, bevor wir die erste Gruppe Rentiere von meiner Herde gesehen haben. Als wir die Tiere sahen, bemerkten wir eine starke Scheu an ihnen, die sie sonst nicht haben. Am Ufer des gefrorenen Imanirävi trieben wir sie flussaufwärts. Luokta meinte, die Tiere wären angegriffen worden. Kurze Zeit später sahen wir den Beweis vor uns liegen. Wir waren ungefähr am Fuß des Skregen Berg, wo das Ossendalen in das Melendalen mündet, als wir ein gerissenes Ren sahen. Um das Ren herum waren noch frische Spuren von Wölfen. Bestimmt hatte das Geräusch unserer Motorschlitten sie aufgeschreckt und sie fliehen lassen. Ohne ein Wort zu sagen, fuhr Luokta mit dem Motorschlitten zu dem Ren, stieg ab und berührte kurz und sanft den Kopf des toten Tieres. Er sah auf die Fährte der Wölfe. Ich rief ihm zu, er solle mir sagen, was er tun will, doch er sprang auf seinen Schlitten und fuhr los. Hinter seinem Schlitten wirbelte er eine hohe Schneefontäne auf. Es war mir klar, dass er die Wölfe jagen wollte, doch diesen Eifer verstand ich nicht. Mit einem großen Abstand musste ich die Verfolgung aufnehmen. Ich fuhr 120, 130, 140 Kilometer schnell. Und dennoch wurde der Abstand zwischen uns größer. Es schien, als könnte er durch das Unterholz fliegen. Die Verfolgung wurde mir zu gefährlich. Ich entschied mich, seine Spuren im Schnee zu verfolgen, die sich im engsten Kurs an den Bäumen vorbeischlängelten. Mir war unverständlich, weswegen er solch einen waghalsigen Kurs fuhr.
Es war ziemlich genau vor einem Jahr, als Luoktas Frau Jiepma zu einer längeren Wanderung ins Melendalen aufbrach. Für die beiden war es fast gewöhnlich, dass sie für längere Zeit getrennt wanderten. Oft war einer von ihnen zwei oder drei Wochen lang unterwegs. Damals konnte ich Luokta und Jiepma nicht verstehen. Jetzt, seit zwei Tagen, kann ich sie verstehen. Nun, vor einem Jahr ging Jiepma auf eine Wanderung. Nach vier Wochen war sie immer noch nicht zurück. Luokta kam zu mir und sagte, er würde alleine losgehen und in zwei Wochen wieder zurück sein. Er kam auf den Tag genau nach zwei Wochen zurück und erzählte mir ohne Trauer, Jiepma sei erfroren. Später sagte ich ihm, dass ich nie verstanden habe, warum sie immer alleine so lange wanderten. Als er mich hörte, lächelte er nur ein wenig und sagte mir, dass sie nur wenn sie in der Einsamkeit waren, wenn sie äußerlich getrennt waren, wussten, dass sie den anderen in sich tragen. Er sagte zu mir: "Wenn ich alleine bin, durch die Wälder gehe, sehe ich mit Jiepmas Blick den Schnee, die Wälder, unsere Rentiere. Aber nur in der Einsamkeit weiß ich, wie ich die Wälder sehe. Ich merke, dass es einen Unterschied zu Jiepmas Sicht gibt, aber ich weiß, diese einzigartige Sicht, die nur Jiepma hat, kann ich annehmen. Ich darf die Wälder so sehen, wie sie sie sehen würde. Sie ist bei mir." Zu diesem Zeitpunkt verstand ich seine Worte nicht, doch hielt ich es auch für unangemessen, ihn weiter zu befragen. Jiepma und Luokta hatten eine besondere Beziehung, doch wie sollte Jiepmas Blick in ihm sein können? Wie sollte er ihren Blick in sich aufnehmen können?
Im folgenden Herbst wirkte Luokta unruhig und angespannt. Ich vermutete, dass sein Verhalten mit Jiepmas Tod in Verbindung stand. Dies sagte ich ihm. Luokta gab mir eine kurze Antwort: 'Ihre Sprache und ihre Stimme fehlen mir für meinen Blick, für sie in mir.' Seine Antwort half mir nur wenig, seine Gestimmtheit zu verstehen."
Während Hågons Bericht schlich sich bei Jonathan das Gefühl ein, er sei das Einzige, was nicht in die Geschichte hineinpasse. Stellenweise schien es ihm, mit seiner Schuldzuweisung habe er auf etwas aufmerksam gemacht, was nur er zu sehen glaubte. Hågon musste sein Schweigen als eine Bestätigung seiner Geschichte aufgefasst haben. Jonathan nutzte Hågons kurze Pause, um auf seine Anwesenheit aufmerksam zu machen: "Das sind Fragen, die mich auch sehr interessieren, doch im Augenblick sehne ich mich nach einem Bericht über die jüngste Vergangenheit. Dort befinden sich einige zwickende Tatsachen. Also versuch bitte einen Bogen zu dem zu spannen, was sich vorgestern Nacht ereignete."
Äußerlich unbeeindruckt erzählte Hågon weiter, fast so, als hätte er nur kurz geschwiegen, Jonathans Worte aber nicht gehört:
"Als ich mit dem Motorschlitten Luoktas Spur verfolgte, dachte ich an diese Worte, die er im Herbst zu mir sprach. Nach einer Stunde war ich in der Nähe des Melendalenvossen, suchte aber noch immer Luokta. Schließlich sah ich seinen Motorschlitten und Luokta in zehn Meter Entfernung liegen. Ein Ast hatte ihn bei seiner Verfolgungsjagd vom Motorschlitten gerissen und musste ihn durch die Luft geworfen haben. Er lag etliche Meter neben der Schlittenspur. Als ich zu ihm kam, war er bewusstlos, aber er atmete und sein Herz schlug. Um den Stamm einer Kiefer grub ich eine Kuhle und zog ihn dorthin. So konnte ihn der Wind nicht weiter auskühlen. Ich begann ihn zu schütteln und er kam langsam wieder zu Bewusstsein. Er lächelte und sagte, er sei glücklich, weil ich bei ihm bin. Jeder seiner Atemzüge war nervös und von Anspannung gekennzeichnet. Unter seiner Jacke entdeckte ich eine Wunde. Der Ast, der ihn vom Schlitten gerissen hatte, hatte ihm einige Rippen gebrochen und ihm die Brust aufgerissen. Ich wollte ihn auf den Schlitten legen und zurückfahren. Doch er sagte, er möchte mit mir in den Wäldern bleiben. Ich war sehr beunruhigt, denn es sah nicht so aus, dass die Zeit ihn heilen könnte.
Luokta sagte, er wolle so lange, wie es ihm möglich sei, mit mir über unsere Kindheit und über seine Erlebnisse mit Jiepma sprechen. Zugleich befürchtete ich, dass ich den Wald ohne Luokta verlassen würde. Luokta und ich kennen uns seit unserer Kindheit. Wir sprachen miteinander, beschworen Bilder unserer Jugend und lachten. Ab und zu gab es Phasen, in denen er sein Bewusstsein zu verlieren schien. Immer wieder schüttelte ich ihn leicht, um ihn zu mir zurückzubringen. Ohne es zu merken, bewahrten wir die zeitliche Reihenfolge, als wir nacheinander unsere Kindheit und Jugend durchschritten. Luokta übernahm die Führung über unsere Erinnerungen und brachte uns zu dem Zeitpunkt zurück, an dem sich unsere Wege schieden. Damals war er mit Jiepma zusammengezogen, sie hatten sich eine eigene Herde gekauft, ich half noch meinen Eltern mit ihrer Herde. Sie waren nur ein Tal weitergezogen, doch nun waren mein und Luoktas Leben getrennt. Ich war neunzehn Jahre alt. Luokta drängte auf diesen Punkt in unseren Leben. Um unseren Abschied und sein Leben mit Jiepma zu begrüßen, fuhren wir zusammen den Imanirävi mit einem Kanu flussabwärts bis zum Kenaru See, um dort zu übernachten. In der Mitte des Sees gab es eine kleine Insel mit Felsen, auf der wir schlafen wollten. Von dem Felsen aus kann man den ganzen See sehen und wie sich seine Form in den Wald legt. Nach den Erfahrungen der letzten drei Tage verstehe ich erst, was sich damals auf den Felsen ereignet hatte. Im Gegensatz zu dem, was wir vorgestern erfahren haben, war das, was wir damals zusammen erlebt hatten, sehr schwach und nach einiger Zeit wurde ich unsicher, ob ich das wirklich erlebt hatte. Wir saßen auf den Felsen des Sees und Luokta fragte mich, ob ich nicht wissen möchte, was er sich vorstellt, wenn er das Wort Baum oder Wald benutzt, ob ich nicht die Bilder zu seinen Worten sehen möchte. Ich antwortete, er solle mir erzählen, welchen Baum er sieht. Er lachte auf und sagte, auf diese Weise sei es sehr schwierig seinen Baum zu erfahren, aber er wüsste, wie dies eher möglich wäre. Damals war ich knapp zwanzig Jahre alt, als ich zum ersten Mal mit Luokta einen Dialog formte, in dem wir keine Wörter gebrauchten. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb standen wir in einem intensiven Austausch unserer Gedanken.
Jetzt im Wald bot mir Luokta erneut die Möglichkeit, mit ihm in einen solchen Dialog zu treten. Mit Jiepma habe er dies oft geübt und daher würde das, was wir jetzt erleben könnten, einfacher und gedrungener sein als der Dialog vor vielen Jahren auf der Insel. Luokta fror und war schwach, einen Abend und die halbe Nacht hatten wir uns schon unterhalten. Mich plagte meine Angst, ich fürchtete, er könnte mich jeden Moment ganz verlassen, doch ich war bereit.
Es ist schwierig zu beschreiben, was wir in den folgenden Stunden bis zum Mittag des nächsten Tages erlebten. Wir fingen an zu singen, überwiegend Lieder unserer Kindheit, die wir von unserem Stamm gelernt hatten. Während wir sangen, brach er aus der Melodie aus, übernahm die Kanonstimme; ich variierte die Tonlage, er führte neue Laute ein. Das Messer muss ich benutzt haben, um einen Rhythmus an den Baumstamm zu klopfen. Schnell verließen wir auch den Text, die Wörter, die Laute unserer gewöhnlichen Sprache. Jeden neuen Laut, den er zwischen uns brachte, nahm ich auf und beantwortete ihn mit meinem Laut. Nach einer Zeit standen wir so in einem Dialog, in dem ich nicht dachte, in dem ich nur mit Luokta war. Es war ein Dialog, den nur wir verstehen konnten, weil er eine Sprache war, die sich in dem Augenblick formte, als wir zueinander sprachen. Vielleicht war es noch nicht einmal eine Sprache, sondern nur die reine Form unserer Gedanken, durch die wir kommunizierten. Gegenseitig führten wir uns so zu den Plätzen unserer Jugend. Ich spürte weder Kälte noch meine Sorge, Luokta könnte mich verlassen. Stattdessen war ich mit Luokta wieder als Kind in dem Anjokki-Wald südlich des Melendalen. Es war ein Sommer, als wir zum ersten Male versuchten, einem Ren nachzustellen. Ich konnte wieder unsere Zeit am Kenaru See erleben, den Geruch und die Farben der Tage von damals erneut in mich aufnehmen. Unser Dialog entwickelte sich. War es am Anfang gerade möglich, dass wir uns verstanden, so standen uns nach einiger Zeit feine Zwischentöne zur Verfügung. Aber vor allem wusste jeder, den Ton des anderen zu gebrauchen.
Irgendwann wurden die Bilder und ich schwächer. Ich wachte gegen Mittag auf, direkt neben Luokta. Er lächelte ein wenig; es war ein Gesicht der Zufriedenheit. Als ich ihn sah, dachte ich, er sei wieder achtzehn Jahre alt und ich könnte wieder sein Kindergrinsen sehen. Mir war klar, es war kein Zufall, was geschehen ist und sich noch für mich ereignen würde. Was ich in den folgenden Stunden tat, war für mich so eindeutig, dass ich keinen Gedanken benötigte, sondern nur meinen Taten zusah.
Auf dem Motorschlitten fühlte ich meinen Körper schmerzhaft. Ich fror und merkte, dass ich von den letzten zwanzig Stunden geschwächt war. Ich glitt neben dem Imanirävi flussaufwärts entlang und sah Rentiere auf der anderen Seite entlangziehen. Der Kenaru See war gefroren und war eine große helle schneebedeckte Fläche, die im Sonnenlicht erstrahlte. Nur in der Mitte hatte der Wind von den Felsen der kleinen Insel den Schnee weggeweht und es entstand eine dunkle Fläche, die als einziger Punkt in dieser Landschaft Orientierung bieten konnte. Den Schlitten stellte ich vor den Felsen ab, kletterte hinauf und blickte gen Osten über den See in den Wald hinein. Kurz summte ich dabei eine Melodie und verlor mich sofort in ihr. In dem Augenblick fiel mir auf, dass sich alles um mich gewandelt hatte. Der Wald, der See, der Himmel; es war nicht mehr meine Art, die Landschaft zu sehen. In diesem Moment wusste ich, dass ich mit Luokta den Wald verlassen hatte und jetzt mit ihm sehe; er ist in mir, und er kann wieder in mir sein und ich werde auf diese Weise bei ihm sein. Auf dem Felsen in dem See verstand ich zum ersten Mal Luokta und Jiepma. Ich verstand, warum sie diese langen Wanderungen getrennt in dieses Tal unternahmen, warum sie stets alleine hierher kommen mussten, dass es keine nähere, empfindsamere Gemeinsamkeit als diese geben kann.
Als ich vom Felsen kletterte, bemerkte ich den Verlust meiner Kräfte, von denen ich die letzten zwei Tage gezehrt hatte. Die folgende Zeit war für mich ein Tunnel. Äußere Dinge nahm ich nicht wahr. Am Ende stand ich vor dieser Hütte und legte mich schlafen. Nun ja, wie Sie hier hereingepoltert sind und mich geweckt haben, wissen sie ja noch selber."
Das leise Rauschen der Schneeflocken zog erneut in die Blockhütte ein und verstärkte so das Schweigen der beiden Männer. Dieses Schweigen kann nur von mir gebrochen werden, dachte Jonathan. "Ich sage vorerst nur mal 'Aha' zu deiner ganzen Geschichte. Nun, ich werde jetzt in die Station fahren und einen Bericht anfertigen. Da du hier ja länger wohnst und auch deinen Besitz hier hast, werde ich dich nicht mitnehmen. Ich weiß, wo ich dich finden kann. Luokta wird wohl morgen geborgen. Mit dem ersten Ergebnis der medizinischen Untersuchung rechne ich übermorgen. Ach, und bitte geh in der nächsten Zeit nicht über die finnische Grenze."
Jonathan Jensen öffnete die Tür, ging auf die kleine Veranda der Blockhütte und schnallte sich seine Schneeschuhe an. Kurz überlegt er, welche Wörter er für den Bericht wählen sollte, damit es nicht die Wörter sind, die er und Hedda benutzen. Diesen Gedanken wollte er verdrängen und sah in die weite, schneebedeckte Landschaft. Wie es wohl wäre, wenn man die Schneedecke als Ganzes ergriffe und sie umdrehte; welche Form hätte wohl dieser Abdruck? Er suchte nach etwas Äußerem und konzentrierte sich auf das Geräusch des Schnees. Es war ein tiefes, knarrendes Geräusch: grump - grump - grump. Nun fiel ihm ein weiteres Geräusch dazu ein: grumpa - ambar - grump - ambar. Der Ton, den Hedda gewöhnlich kurz vor dem Einschlafen macht, dachte er, passt gut zu dieser Melodie. Ein leichtes Summen ging von ihm aus: grumpa - ampe - hemje - grumpa - ampe - hemje...
So zog er langsam am Imanirävi entlang und würde in ein paar Stunden wieder den Pickup erreichen, den er heute früh dort abgestellt hatte. Er würde in die Polizeistation fahren und dort seinen Bericht schreiben.