"Pop.documents"
von Lutz Hagestedt und Mischa Gayring (Hg.)
Verlag LiteraturWissenschaft.de (TransMIT)
Marburg an der Lahn 2001
EIS
von: Leena May Peters
für christoph, zum dank für eine sanfte landung
Der See liegt starr und gläsern zwischen den erfrorenen Gräsern. Die Luft steht so still über den flachen Wiesen, dass der Mann am Ufer das Gefühl hat, wie eine Säule in den blassen Himmel zu ragen; die Kälte scheint jedes Geräusch zu ersticken.
Der Mann verharrt am Rand der Eisfläche. Seine Augen gleiten über den Horizont, er atmet tief ein, saugt die Kälte in seine Lungen, spürt die eisigen Spitzen in seinem Brustkorb. Dann hebt er bedächtig die Spitzhacke auf, die neben ihm im Gras liegt, und betritt mit vorsichtigen Schritten das Eis.
In der Mitte des Sees angekommen, lässt er sich auf die Kniee nieder und betrachtet die Schwärze unter sich. Er kann nicht sehr weit in die Tiefe sehen, das Wasser ist zu dicht; die darin eingeschlossenen Blasen wirken wie in der aufsteigenden Bewegung gebannt: sobald die Wärme der Sonne wieder bis zur Erde hinuntergelangt, werden sie ihren Weg fortsetzen.
Der Anblick verzaubert den Mann. Allein auf dem See, unter dem wolkenlosen Himmel, in der regungslosen Kälte scheint auch die Zeit eingefroren, diese Sekunde könnte ewig andauern. Nach einem Moment entschließt er sich, fasst den Griff der Hacke mit beiden Händen und schlägt die Spitze hart in das Eis. Eben noch durchsichtig, splittert es jetzt weiß, pulvrig unter dem Metall.
Die Stille gewährt ihm seinen eigenen Rhythmus. Sein Keuchen wechselt sich ab mit dem knirschenden Aufprall, nur langsam bildet sich ein Loch unter seinen Schlägen. Als er endlich die starre Oberfläche durchdrungen hat und das Glucksen des Wassers hört, dampfen seine Haare vom Schweiß. Nachdem er die Hacke zur Seite gelegt hat, ruht er sich einen Moment aus, die Beine angezogen, die Arme um die Knie geschlungen. Das Schweigen um ihn herum ist ihm bewusst; er genießt die Abwesenheit jeglicher Lebenszeichen. In dieser Einsamkeit gehört alles ihm, nur er ist hier, um den See, die Wiesen, den Himmel und die Sonne wahrzunehmen, es ist jetzt sein ungeteilter Besitz.
Schließlich beginnt er, sich auszuziehen. Stück für Stück gibt er seine Haut der kalten Luft preis; diese Kälte schleicht sich behutsam an und dringt langsam in die Knochen. Als er nackt ist, blickt er konzentriert auf die Öffnung im Eis vor sich. Nocheinmal atmet er tief ein, versucht, in den kleinen Wellen in der Dunkelheit unter der Oberfläche den Schock vorauszusehen. Dann beugt er sich über das Loch, greift nach dem gegenüberliegenden Rand und lässt seinen Körper schnell in die beißend kalte Nässe sinken.
Wie ein stählerner Mantel legt sich das Eiswasser um seinen Körper. Seine Haut kann die Kälte nicht aufhalten, sie dringt ohne eine Sekunde der Gnade durch seine Muskeln bis auf die Knochen. Seine Hoden ziehen sich zu gläsernen Murmeln zusammen, seine Lunge gibt stoßweise den eingehaltenen Atem frei. Er öffnet die Augen und kann sehen, wie die Blasen aufsteigen, sich unter der Eisdecke sammeln und schließlich den Weg durch das über ihm liegende Loch hinaus finden. Die Wucht des Eintauchens hat seine Gedanken, seine ganze Existenz zusammengepresst, er fühlt sich schneidend klar und präzise. In dem grünblauen Raum kann er sich leicht, schwebend bewegen, die Unendlichkeit trägt ihn.
Er sieht, wie er herabsinkt; die gerade Linie des Eises entfernt sich stetig von ihm. Lange fällt er gemächlich in der dichten Kälte, bis er unter sich eine andere Grenze wahrnimmt. Wie eine Wolkendecke verändert sich der Grund, auf den er zutreibt, die Leichtigkeit seines Falls spiegelt sich in dem Spiel der Substanz. Als er darin eintaucht, zerstäubt der Schleier. Er hinterlässt in dem Nebel Ringe, die sich ausbreiten, immer flacher werden, bis keine Spur mehr zu sehen ist von seinem Durchdringen.
Eine weitere Unendlichkeit erschließt sich ihm. In dem hellen, glasklaren Raum verliert er seine Empfindung von Bewegung; nachdem auch die Wolkendecke über ihm nicht mehr wahrzunehmen ist, scheint er stillzustehen.
Er beginnt, seinen Körper in der Schwerelosigkeit zu erkunden: er hebt die Arme, streckt die Beine und dreht seine Schultern erst in die eine, dann in die andere Richtung. Es scheint ihm, als hätten seine Gliedmaßen noch nie so sehr zu ihm gehört, als sei sein Körper noch nie wirklich, wie jetzt eins gewesen mit dem intensiven, exakten Bewusstsein seines Ich. Aus seinem nackten Brustkorb strömt warmes Lebensgefühl. Sich in dieser Leere und Einsamkeit vollständig zu finden, erfüllt ihn mit einer ruhigen, sicheren, schwebenden Freude.
Und aus der Freude wächst der Entschluss, diesen klaren Raum nicht mehr zu verlassen. Die Präzision seines Seins ist gebunden an das Nichts im Eis, in der Welt dahinter wird er sich wieder auflösen in ein Kaleidoskop von Bildern, zersplitterten Projektionen. Er weiß nicht mehr, wie es war, tausendfach zu sein; er weiß nur, er will den glatten, kompakten Körper seiner Existenz nicht wieder zerbrechen.
Sein Entschluss hat lange gebraucht, um absolut zu werden. Wie eine Luftblase sich langsam durch einen Spalt drückt, ist seine Sicherheit angewachsen, bis sie jetzt als eine perfekte Kugel in seiner Empfindung schwebt.
Er hat gerade genug Zeit, den Moment der Vollendung zu erfassen, dann spürt er plötzlich, wie er von einem Stoß um sich selbst gewirbelt wird. Er spürt keinen Hauch, dennoch wird sein Körper wie von heftigem Wind erfasst, willenlos in taumelnde Bewegung versetzt. Gleichzeitig entdeckt er, wie sich in dem Nichts, das ihn umgibt, Formen bilden, die ebenso taumelnd um ihn tanzen.
Zuerst nur schemenhaft, kann er bald die Umrisse von Eiskristallen erkennen, Schneeflocken von der Größe seiner Hände. Er versucht, seine umhertreibenden Arme in seine Gewalt zu bringen, um nach diesen scharfkantigen Juwelen zu greifen; ihre Facetten glitzern im quellenlosen Licht, das den unendlichen Raum erhellt. Immer wilder toben die Eisblumen um ihn, immer weniger ist es ihm möglich, seine Arme seinem Willen gefügig zu machen. Ein Spielball eines lautlosen, bewegungslosen Sturmes, ein verzweifelter Tänzer im Bodenlosen, kann er nicht aufhören, mit seinen Gliedmaßen zu ringen.
Schließlich erschöpft sich seine Kraft und er gibt sich den Wirbeln hin, lässt seine Arme und Beine hängen und folgt nur noch mit den Augen dem Taumeln der Kristalle. Seine Lider sinken herab. Im Eis verlässt ihn sein Wille, er wünscht sich nur Stille, Kühle und Sicherheit. Fast vergeht eine Ewigkeit, in der er an nichts mehr festhält, nach nichts mehr greift; die Geschliffenheit seines Ich bleibt.
Er hat die Ruhe nicht wahrgenommen, die um ihn herum eingekehrt ist, dennoch öffnet er wieder die Augen. Die Eisblumen schweben gelassen, als wären sie schon immer in ihrer Reglosigkeit verharrt. Wie in einem Schneesturm, im Raum einer Sekunde festgehalten, treibt er inmitten ihrer vielfachen Einzigartigkeit.
Vorsichtig zieht er die Arme an seinen Körper, aber kein Sturm erwächst aus der Bewegung. Nur ein Kristall, bereits dicht vor seinem Gesicht, scheint näher heranzutanzen und kommt dicht vor seinen Augen sachte drehend zum Stillstand. Er kann die glatten, schillernden Flächen, die präzisen Winkel und scharfen Kanten betrachten. So klar, so exakt ist ihre Schönheit, dass sie ihm schmerzhaft ins Bewusstsein schneidet; trotzdem versucht er erneut, danach zu fassen. Wie spielerisch weicht die Schneeflocke von ihm, gerade außer Reichweite seiner Hände, die er sofort wieder sinken lässt. Kaum greifen seine Finger nicht mehr nach ihr, taumelt sie zurück vor seine Augen, dreht sich um ihre Achse und glitzert lockend.
Er gibt auf; er will nichts mehr, er lässt den Kristall und sich selbst in der schwebenden Richtungslosigkeit sein. Nur seine Augen erforschen weiterhin die Linien der Flocke, aber nicht, um zu erfassen, nur um zu schmeicheln, um über die gläserne Brillanz zu streichen.
Immer genauer erkennt er die Form dieses Kristalls, von allen Seiten, in jedem Winkel hat sich das Juwel vor ihm gezeigt, mit sachten Bewegungen hat es sich seinen Blicken hingegeben. Nichts daran ist ihm noch unbekannt, wenn sein Geheimnis ihm auch noch immer unerschlossen bleibt. So sehr hat er den Umriss seines Kristalls verinnerlicht, dass er glaubt, in einen Spiegel zu sehen; er ist dieser klare Körper, diese vollkommene Form ist er selbst.
Er breitet seine Arme aus, streckt seinen ganzen Körper, öffnet sich zu seinem Spiegelbild hin, als ahme er die fünfzackige Struktur nach, als wolle er die Ähnlichkeit vollständig machen. Und auf diese ganz und gar aufgebende Geste reagiert der Kristall: er nähert sich ihm, treibt langsam auf die Mitte seines Körpers zu, die er ihm darbietet.
Die eisige Kälte, die gnadenlose Schärfe des Eisjuwels dringt in ihn ein und er empfängt sie dankbar, gibt sich in sie hinein wie sie sich in ihn. Er opfert das Innerste seiner Existenz, den Kern seines Ich und erhält beides durch das Opfer der Schneeflocke zurück.
Im Moment der absoluten Vereinigung beginnen die anderen Kristalle, wieder zu tanzen und zu taumeln; auch er wird wieder vom Sturm erfasst, doch dieses Mal hat der Sturm eine Richtung: er wird zurück hinaufgetragen. Noch immer mit ausgebreiteten Gliedern, sieht er über sich die Wolkendecke herannahen, er durchstößt sie erneut, aber er sieht es nicht. Mit geschlossenen Augen empfindet er die Präzision des Kristalls gleichzeitig, gleichräumig mit der Präzision seines eigenen Seins. Erst, als das gleißende Licht über ihm sich zu einem Punkt verdichtet, sieht er wieder aus seinem Inneren hinaus, hinauf zur Eisdecke und dem Loch, durch das die Sonne, die zu dieser äußeren Welt gehört, ihre gebrochenen Strahlen auf ihn niedersinken lässt. Auf diesen Lichtpunkt treibt er zu, die Arme nach oben gestreckt, den Kopf in den Nacken gelegt.
Fast sofort, nachdem seine Finger den scharfen Rand des Eislochs erfasst haben, durchstößt sein Gesicht die Wasseroberfläche. Der Auftrieb hebt ihn soweit über die Fläche, dass er sich aufstützen und herausheben kann; mit einem erschöpften Seufzer gleitet er aus der Öffnung und sinkt der Länge nach auf das harte Eis. Kaum länger als eine Sekunde hat ihn die eisige Flüssigkeit umschlossen, dennoch empfindet er Wehmut, eine melancholische Sehnsucht, als habe er gerade einen warmen, schützenden Schoß verlassen.
Er kann sich nur kurz der sanften Müdigkeit hingeben, dann dringt die kalte Luft zu schneidend auf ihn ein. Er greift nach dem Handtuch, mit dem er die glitzernden Tropfen von seiner geröteten Haut reibt; das Blut, das in seine Gliedmaßen fährt, macht seine Haut, seine Wahrnehmung sensibel. Als sähe er sie zum ersten Mal, betrachtet er seine lebendigen Arme und Beine, den Rumpf, in dem er sich selbst spürt.
Noch mehr jedoch pocht in seinem Herzen, seinem Kopf das Leben, die reine Freude an der eigenen Existenz; dazu die Gewissheit, gewappnet, gestärkt zu sein. Als hätte das kurze Abtauchen unter das Eis alle überflüssigen Gedanken, Empfindungen, Wahrnehmungen abgespült und ihn geglättet und verdichtet wieder hinausgestoßen.
Bedächtig zieht er sich an, schultert die Spitzhacke und verlässt mit von Zweifel befreiten Schritten das Eis.